Fünftes Kapitel.
Die entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise
in der Ästhetik.
1. Neben dem Rufe nach einer normenlofen, rein befchreibenden oefchicht*
Äfthetik wird gegenwärtig auch das Verlangen nach einer entwick- l!Ches'
lungsgefchichtlichen Grundlegung diefer Wiffenfchaft von verfchiedenen
Seiten laut. Befonders entfchieden ift in der letzten Zeit diefe Forde¬
rung von Konrad Lange in feiner Abhandlung „Gedanken zu einer
Äfthetik auf entwicklungsgefchichtlicher Grundlage“1) geftellt worden.
In feinem großen Werke hat er dann in genauerer und vorfichtigerer
Weife dargelegt, in welchem Sinne er die vorgefchichtliche und
gefchichtliche, die menfchliche und die individuelle Entwicklung der
äfthetifchen Gefühle in der Äfthetik behandelt zu fehen wünfcht.2 *)
Schon vor Lange war es Emft GrolTe, der mit feiner Forderung einer
foziologifchen Äfthetik und einer ethnologifchen Methode dem gleichen
Ziele zuftrebte.8) Von den zahlreichen fonftigen Verfuchen, äfthe¬
tifchen Fragen mit entwicklungsgefchichtlicher Methode beizukommen,
nenne ich hier nur Karl Bûchers hervorragende Schrift „Arbeit und
Rhythmus“4) und Yrjö Hirns umfangreiche Unterfuchung über den
Urfprung der Kunft.5) Bücher fucht die Entftehung der Tonkunft
und Dichtung dadurch aufzuhellen, daß er, unter Zugrundelegung
einer erftaunlichen Fülle höchft lehrreicher Tatfachen aus der Völker¬
kunde, auf die Verknüpfung von rhythmifcher Körperbewegung, Ge-
*) In der Zeitfchrift für Pfychologie und Phyfiologie der Sinnesorgane, Bd. 14,
S. 242 ff.
*) Konrad Lange, Das Wefen der Kunft. Berlin 1901. Bd. 1, S. 37 ff.
s) Ernst Grosse, Die Anfänge der Kunft. Freiburg i. B. und Leipzig, 1894.
4) Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus. 3. Aufl. Leipzig 1902. S. 342 ff.
5) Yrjö Hirn, The Origins of art. London 1902.
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