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Erfter Abfchnitt: Methodifche Grundlegung der Äfthetik.
3. Über-
fchätzung
der Indivi¬
dualität des
K&nftlers.
der Umwelt. Ohne Zweifel verdanken wir jenen Denkern fehr viel,
die auf die ungeheuere Wichtigkeit der taufendfachen Einflüffe hin-
gewiefen haben, die von den verfchiedenen Kreifen der natürlichen
und geiftigen Umwelt auf die Entftehung und Entwicklung der Er-
fcheinungen des geiftigen Lebens ausgehen. Aber erftlich darf man
die große Bedeutung der Umwelt für das Werden und Leben der
geiftigen Erfcheinungen nicht dahin fteigem, als ob fie gänzlich oder
auch nur in den Hauptfachen aus ihr erklärbar wären. Es darf das
Individuum mit feinen urfprünglichen Anlagen, mit feinen oft über-
rafchenden Anftößen und Anfängen, mit feinen fchöpferifchen Taten
nicht überfehen werden. Ein Individuum, handle es fich um einen
Staatsmann, einen Künftler oder fonft einen Beruf, in feiner Eigenart
aus den Zeitverhältniffen als ein Notwendiges erklären, nämlich wirk¬
lich erklären und nicht etwa bloß in einigen Zügen eine gewiffe Ver-
wandtfchaft aufweifen: dies hat noch niemand von Proudhon und
Taine bis zu den Marxiften der Gegenwart vermocht. Zweitens aber
ift zu erwägen: felbft wenn fich alle Künftler und Kunftwerke aus
den natürlichen und geiftigen Mächten der Zeit reftlos herleiten ließen,
fo wäre damit noch immer nichts gegen die normative Äfthetik gefagt.
Denn auch nach der vollftändigen Herleitung der Künftler und Kunft¬
werke aus den umgebenden Verhältniffen bliebe noch immer die
Frage übrig, ob fich durch fie Schauen, Gefühl, Phantafie befriedigt
finden. Beide Aufgaben haben miteinander nichts zu fchaffen. Mögen
immerhin alle Künftler und Kunftwerke nichts als notwendige Erzeug-
niffe der Umwelt fein: fo ift daneben ganz wohl möglich, daß aus
der menfchlichen Natur beftimmte Maßftäbe und Forderungen folgen,
an denen wir die Künftler und Kunftwerke meffen, und denen gemäß
wir uns zu ihnen zuftimmend oder ablehnend verhalten. Ober die
Frage, ob es folche allgemeine Maßftäbe und Forderungen für Künftler
und Kunftwerke gebe, ift durch die Theorie von der Allmacht der
Umwelt nichts entfchieden.
Doch auch von ganz anderer Seite her wird die Vorliebe für
eine nur befchreibende Äfthetik genährt. Neben der naturwiffenfchaft-
lichen Denkweife (und dahin gehört auch die Übertreibung der Macht
der Umwelt) ift es eine gewiffe einfeitige künftlerifche Anfchauung,
die gegen alle äfthetifchen Normen verdächtig ftimmt. Mit der Ent¬
wickelung der modernen Kunft hängt zufammen, daß vielfach die
Individualität des Künftlers ungeheuer überfchätzt wird. Es befteht
der Glaube, daß jede Künftlerindividualität, wenn fie nur eigenartig,