Volltext: System der Ästhetik. Erster Band

Achtzehntes Kapitel: Schlußbetrachtungen. 589 
die Sache fo, daß ich nicht etwa um der zu erwartenden Luft willen, 
fondem darum diefe Bedürfniffe habe, weil ich mich in wertvoller, 
edler Weife betätigen, eine Erhöhung und Ausweitung meines Selbftes 
erleben, ein Großes und Hohes in mir erfahren will. Kurz, in dem 
Verlangen nach dem Erleben von inneren Werten wurzelt das 
äfthetifche Bedürfnis. Diefes Erleben innerer Werte ift mir nun freilich 
zugleich als etwas Befriedigendes, Beglückendes, Befeligendes gewiß. 
Aber diefe Ausficht auf Luft ift nicht die Triebfeder, die mich zum 
äfthetifchen Betrachten und Genießen treibt. Die Luft ift nicht der 
Sinn und Kern deffen, was ich im äfthetifchen Verhalten erftrebe. 
Sondern fie ift lediglich die unmittelbare Folgeerfcheinung, die in 
dem äfthetifchen Verlangen natürlicherweife miterftrebt wird. Indem 
ich das Zuftandekommen eines eigentümlichen inneren Wertes in mir 
erleben will, habe ich zugleich die Gewißheit, daß ich ebendamit 
Genuß und Beglückung erfahren werde. Sonach war es in der 
Ordnung, die äfthetifchen Normen nicht auf die Luft, fondem viel¬ 
mehr auf gewiffe innerlich wertvolle Betätigungsweifen zu gründen, 
die Luft aber als eine in der Verwirklichung der Normen wefentlich 
und organifch mit inbegriffene Folgeerfcheinung anzufehen.1) 
3. Am Schluß der langen Wanderung drängt es mich, ein Be¬ 
denken abzuwehren, das ohne Zweifel fchon vielen Lefern gekommen 
fein wird, und gegen das ich mich auch in diefen DarlegungenTchon 
einige Male, insbefondere im fiebzehnten Kapitel des zweiten Ab- 
fchnittes (S. 356 f.), gewandt habe. Ich meine folgendes Bedenken. 
Das äfthetifche Betrachten und Genießen hat ftch uns in eine 
Fülle von Funktionen und höchft verwickelten Beziehungen zwifchen 
ihnen zerlegt.2) Wieviel Arten von Luft, wieviel Formen von Illufion, 
fo kann man hiernach verwundert ausrufen, müßte nicht gemäß diefer 
Zergliederung auch das einfachfte künftlerifche Verhalten aufweifen! 
Und wie verfchiedener Art müßten nicht in jedem äfthetifchen Akte 
die Vorftellungen fowohl wie Gefühle fein! Und wie unglaublich ver¬ 
wickelt ftellte (ich nicht in jener Zergliederung das Verhältnis von 
Vorftellung und Gefühl dar! Und nun gar die Einfühlung zeigte fich 
als ein faft undurchfichtig vielfeitiger, fait verzwickter Vorgang. Und 
1) Scharf und ausführlich wendet fich Lauril\ gegen die Anficht, daß das 
Wefen der Kunft in einem Genuß beftehe (a. a. O., S. 83 ff.). 
2) Wundt fleht in den höheren äfthetifchen Gefühlen die „verwickeltefte“ 
Geftaltung der komplexen Totalgefühle. Das äfthetifche Gefühl fchließe alle anderen 
Gefühle in fich und ergreife fo unfer ganzes Gemütsleben (a. a. O. Bd. 3, S. 624 ff.). 
Ein 
naheliegender 
Einwurf.
	        
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