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Dritter Abfchnitt: Normative Grundlegung der Äfthetik.
Nach meinen Ausführungen verhält es (ich mit der äfthetifchen
Luft wefentlich anders. Die Luft hat nicht den Rang eines äfthetifchen
Prinzips, gefchweige des einzigen; von der Luft geht nicht Begrün¬
dung und Rechtfertigung des äfthetifchen Verhaltens aus. Die Luft
ift lediglich Folgeerfcheinung bei der Verwirklichung der äfthetifchen
Normen, allerdings keine nebenfächliche, entfernte und zerftreute,
fondern eine organifche, innerlich hervorwachfende Folgeerfcheinung.
In dem fiebzehnten Kapitel des zweiten Abfchnittes haben wir die
verfchiedenen pfychologifchen Urfprünge der äfthetifchen Luft kennen
gelernt, und dabei hoben lieh uns befonders diejenigen Luftformen
heraus, die ich normative nannte. Die normative Luft entfpringt un¬
mittelbar aus der Verwirklichung der vier äfthetifchen Normen. Und
ebenfo hat (ich uns foeben, zu Beginn diefes Kapitels, das Zufammen-
wirken der vier Normen als eine Urfprungsftätte äfthetifcher Luft er-
wiefen. Daneben aber gibt es, wie uns jenes frühere Kapitel zeigte,
eine Fülle anderer äfthetifcher Luft, die zwar nicht in demfelben Grade
organifch und kernhaft aus der Verwirklichung der Normen hervorgeht,
aber doch auch aus gewiffen in notwendiger Verbindung mit der Normen¬
verwirklichung in Bewegung gefetzten feelifchen Funktionen entfpringt.
Es wäre daher auch ganz wohl möglich gewefen, die äfthetifchen
Normen eudämoniftifch auszudrücken. Dann würden fie eben von
der Seite ihrer unmittelbaren Folgeerfcheinung gefaßt und ausgedrückt
worden fein.
Wäre es nun aber nicht das Richtige gewefen, die äfthetifchen
Normen von der eudämoniftifchen Seite her zu faffen? Wäre es
nicht überhaupt erforderlich gewefen, die Luft an die Spitze der
Normen zu ftellen und als das Ziel zu bezeichnen, von dem alle
äfthetifchen Beftimmungen abhängig zu machen feien?
Wenn ich diefen Weg nicht eingefchlagen habe, fo lag die An-
fchauung zu Grunde, daß wir das Äfthetifche als einen fachlichen,
nicht nur als bloßen Luftwert fühlen. Es hieße untere innere Er¬
fahrung einfeitig, ja geradezu entftellt wiedergeben, wenn wir fagen
wollten, daß unter Verlangen nach äfthetifcher Betätigung lediglich
um der zu erhoffenden Luft willen gefchehe. Wenn ich in das
Theate gehe, um eine Poffe oder Operette zu fehen, fo ift wohl
meine Abficht, mich zu vergnügen. Wenn ich dagegen das Verlangen
habe, wieder einmal die Dresdener Galerie zu befuchen, wieder ein¬
mal Jean Pauls Titan zu lefen, wieder einmal Fidelio zu hören,
wieder einmal Hamlet in guter Aufführung zu fehen, fo liegt in mir