Sechzehntes Kapitel : Vierte äfthetifche Grundnorm in pfychologifcher Bezeichnung. 569
an früherer Stelle (im fechften Kapitel diefes Abfchnittes; S. 438)
wurde ausgeführt, in wie gezwungener und künftlicher Lage fich
folchen abftrakten Formenzufammenftellungen gegenüber, die weder
ein Kunftwerk noch einen Naturgegenftand bedeuten, das äfthetifche
Gefühl befinde, und daß daher die an folchen Formen gefammelten
Erfahrungen nicht als zweckmäßige Grundlage für die Äfthetik an-
gefehen werden dürfen. Wenn daher Regelmäßigkeit und verwandte
Verhältniffe auf Grund der an geometrifchen Figuren gemachten
Beobachtungen und Verfuche als äfthetifche Mufterverhältniffe hin-
geftellt werden, fo liegt darin im Gegenteil ein Grund mehr, um gegen
eine derartige Aufftellung Widerfpruch zu erheben. Und noch ftärker
muß der Widerfpruch dann ausfallen, wenn man bei den Verfuchen
mit geometrifchen Figuren auf die Einfühlung verzichtet und lediglich
nach dem abftrakten Wohlgefallen und Mißfallen fragt. Dann können
die Verfuche und ihre Ergebniffe, wie gleichfalls fchon an der ange¬
führten Stelle gezeigt wurde, überhaupt nicht mehr als äfthetifche gelten.
Wenn z. B. Fechner die Wohlgefälligkeit des Quadrats und ver- Fechner.
fchiedener Rechteckformen unterfucht und auf Grund hiervon eine
Anzahl von Regeln aufgeftellt hat, durch die gewiffe Formen als
muftergültig ausgezeichnet, andere als mißfällig beifeite gefchöben
werden,1) fo glaube ich vielmehr, daß auch die als mißfällig ver¬
worfenen Formen unter Umftänden, d. h. wenn die Natur des Gegen-
ftandes, der Stil und die individuelle künftlerifche Art eine beftimmte
Befchaffenheit haben, äfthetifch wirkfam werden können. Ich greife
nach einem Buche, das mir grade zur Hand ift: Deutfche Möbel der
Vergangenheit von Ferdinand Luthmer, und finde beim Durchblättern,
daß an den hier abgebildeten Schränken, Truhen, Bettftellen, Täfe¬
lungen u. f. w. Rechtecke der verfchiedenften Form, lang und dünn
in die Höhe geftreckte, zufammengedrückte und breit hingelagerte,
dem Quadrat in verfchiedenen Graden fich annähernde und von ihm
in verfchiedenen Graden fich entfernende, Vorkommen, und daß fie
alle eine äfthetifch wirkfame Sprache zu uns reden. Die Wohlgefällig¬
keitskurve, die man für das Rechteck ermittelt hat,2) dürfte, fo glaube
ich, kaum von Einfluß auf den äfthetifchen Eindruck diefer konkreten
Rechtecke fein. Bei den äfthetifchen Verfuchen wird viel zu fehr, wo
nicht gar ausfchließlich, freilich nur ftillfchweigend, der Maßftab des
Anmutigen und im engen Sinne Schönen angelegt. Es wird vergehen,
9 Fechner, Vorfchule der Äfthetik, B& 1, S. 190 ff.
*) Wundt, a. a. O., Bd. 3, S. 149 f.