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Dritter Abfchnitt: Normative Grundlegung der Äfthetik.
Das
äfthetifche
Verhalten
in feinem
Werte
für die
Volks¬
bildung.
Damit ift natürlich nicht unterfagt, daß die dem Äfthetifchen ge¬
widmeten Stunden einen Ertrag an Wiffen und Einficht liefern. Im
Gegenteil ift es im Intereffe der Volksbildung im höchften Grade zu
wünfchen, daß fich an die Befchäftigung mit der Kunlt Bereicherung an
KenntnilTen und Vertiefung an Einficht fchließe. Wenn aus der Be¬
fchäftigung mit Goethes Dichtungen ein feineres und tieferes Ver-
ftändnis für die Perfönlichkeit Goethes, für die menfchliche Natur,
für Fragen des Lebens und Strebens erwächft, oder wenn fich aus
dem Lefen der alten griechifchen und römifchen Dichter als Frucht
ein erweitertes und vertieftes Bild von der Kultur der Alten ergibt,
fo find dies höchft wertvolle Erträge. Befonders die Erziehung rechnet
darauf, daß durch das Lefen der Dichter vor allem das Verltändnis
für alles Menfchliche zunehme.
Alle diefe Verwertungen der Befchäftigung mit der Kunft zu
Gunlten der fich erweiternden und reifenden Einficht bleiben durch
die hier geforderte Erkenntnislofigkeit des äfthetifchen Verhaltens un¬
berührt. Denn teils handelt es fich dort um Wirkungen, die nach
beendetem äfthetifchen Verhalten eintreten. Und wer wollte nicht
wünfchen, daß die äfthetifchen Betrachtungen und Genüffe möglichft
zahlreiche und ftarke Wirkungen wie auf fittliche und religiöfe Hebung
des Menfchen, fo auch auf Wiffen und Einficht ausüben mögen!
Teils aber liegt die Sache fo, daß die Kunft geradezu in den Dienft
anderer Zwecke, in den Dienft von Erziehung, Bildung, Aufklärung
geftellt wird. In den Schulen hat das Lefen von Dichtern ohne
Zweifel an erfter Stelle nicht Bildung des Gefchmacks zum Ziele,
fondern Förderung an Verltändnis für das Menfchliche und fittliche
Veredlung. Die Äfthetik hat nun ficherlich kein Recht, das Stellen
der Kunft in den Dienft folcher Zwecke zu verbieten. Die Äfthetik
darf nur fagen: wo dergleichen ftattfindet, dort ift kein rein äfthe-
tifches Verhalten vorhanden; und ferner: das äfthetifche Verhalten
ift ein hoher menfchlicher Wert, deffen Verwirklichung zur vollen
menfchlichen Entwicklung gehört. Aber hierdurch ift nicht ausgefchloffen,
daß neben dem äfthetifchen Verhalten die Kunft als Mittel für andere
Zwecke verwertet werde. Um folche Fragen zu entfcheiden, muß
fich die Äfthetik mit Ethik und Pädagogik verbinden.
Wohl niemand hat den Unterfchied von Kunft und Wiffenfchaft
fo arg verkannt wie Zola. Der Romandichter gilt ihm als ein wiffen-
fchaftlicher Arbeiter, der die Methode der Beobachtung und Zergliede¬
rung handhabt. In dem Roman erblickt er eine auf Phyfiologie ge-