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Dritter Abfchnitt: Normative Grundlegung der Äfthetik.
Begehrungen und Willensäußerungen jeder Art. Befand ers in der
Dichtung tritt dies hervor. Die vom Dichter dargeftellten Perfonen
find nicht nur von Stimmungen und Gemütsbewegungen erfüllt, fon-
dern leben auch in Wünfchen, Begehrungen, Beftrebungen, Vorfätzen,
EntfchlülTen und Taten. Der äfthetifch Genießende hat alfo in diefer
Hinficht nicht nur Strebungen unbeftimmterer Art, nicht nur Stre¬
bungen, die in Gefühle eingebettet find, fondern auch Strebungen,
die unmittelbar auf Verwirklichung losgehen, in fich zu vollziehen.
Ift denn nun hiermit nicht der fchneidendfte Widerfpruch zu der
hier vertretenen Willenlofigkeit ausgefprochen? Es gilt nur, fich auf
das zu befinnen, was mit den gegenftändlichen Gefühlen getagt ift,
und der Widerfpruch verfchwindet fofort.
Erft en s muß man fich vergegenwärtigen, daß ein fehr großer
Teil der gegenftändlichen Gefühle in der Form von vorgeftellten
Gefühlen, im Elemente der reproduzierenden Vorftellung vor fich
geht. Es ift klar, daß, felbft wenn das heftigfte Wollen und Handeln
famt der ganzen damit verknüpften leidenfchaftlichen Erregung Inhalt
des reproduzierenden Vorftellens ift, diefer Vorgang von wirklichem
Wollen und Handeln himmelweit entfernt ift. Es bleiben fonach nur
diejenigen gegenftändlichen Gefühle zur Erwägung übrig, die nicht
in Form von Vorftellungen, fondern als wirklich erlebte Gefühle in
dem Betrachter gegenwärtig find. Von diefen wirklich erlebten gegen¬
ftändlichen Gefühlen fragt es fich, ob die in ihnen enthaltenen Willens¬
akte mit der behaupteten relativen Willenlofigkeit verträglich find.
Da ift nun zweitens zu bedenken, daß diefe fämtlichen wirklich
erlebten gegenftändlichen Gefühle, und natürlich auch die in ihnen
enthaltenen Strebungen aller Art, in den äfthetifchen Gegenftand „pro¬
jiziert“ werden. Die gegenftändlichen Gefühle lind, fo haben wir
gefehen (S. 249), mit dem ftillfchweigenden Nebengedanken, mit der
unmittelbaren, wenn auch nicht ausdrücklich zu Bewußtfein kommen¬
den Gewißheit verknüpft, daß fie nicht meine Gefühle, fondern Ge¬
fühle der fremden Perfonen find. Und diefe den gegenftändlichen
Gefühlen innewohnende Gewißheit verftärkt fich durch den pfycho-
logifchen Vorgang der Verfchmelzung, der als folcher fchon eine
Hinausverlegung der gegenftändlichen Gefühle in fich fchließt. Kurz,
worauf es hier ankommt, ift der Umftand, daß die gegenftändlichen
Gefühle mit der felbftverftändlichen Gewißheit verknüpft find, daß es
nicht meine Gefühle find, fondern Gefühle der fremden, gegenüber-
ftehenden Perfon. Diefe den eingefühlten Begehrungen und Willens-