Siebentes Kapitel: Die äfthetifche Bedeutung der untermenfchlichen Gebilde. 445
fich um Berg oder Meer. Um einen vollen äfthetifchen Eindruck
eines Seebildes von Hammacher oder einer Eifellandfchaft von Hans
Volkmann zu haben, braucht man nicht zu wiffen, wie fich die
Temperatur des Meerwaffers mit zunehmender Tiefe verändert, welche
Tiefe das Meer an der beftimmten Stelle hat, oder was die Geologie
über das Geftein im Innern des Berges ausfagt. Davon war in
anderem Zufammenhange gelegentlich der Bedeutungsvorftellung die
Rede (S. 134f.).
3. Wenn nun aber auch für den äfthetifchen Eindruck der unter¬
menfchlichen Gehalten ihre objektive Bedeutung wefentlich beftimmend
ift, fo ift damit keineswegs gefagt, daß, wie viele befonders unter
den älteren Vertretern der Äfthetik meinen, die objektive Bedeutung
immer den Sinn der objektiven Vollkommenheit haben müffe. Es ift
nicht fo, daß eine untermenfchliche Geftalt nur dann äfthetifch wirk-
fam ift, wenn fie den Vollkommenheitsanfprüchen der jeweiligen
Gattung entfpricht. In zahllofen Fällen haben vielmehr fchwächliche,
kränkliche, verkrüppelte, halbzerftörte Gattungsvertreter eben wegen
diefer ihrer Abweichung vom Vollkommenheitsideal ihren eigentüm¬
lichen äfthetifchen Reiz. Das Malerifche eines Zigeunerlagers kann
durch ein paar abgetriebene Mähren und fchäbige Hunde verftärkt
werden. Im Hochgebirge haben an der Baumgrenze die letzten
Arven gerade in dem Zerwetterten ihres Ausfehens ihren eigentümlichen
äfthetifchen Wert. Welkende Rofen, kärgliches Acker- oder Weide¬
land, trübfelige Novembernatur, ein vernachläffigter, verfallender Park —
dies alles kann von ftarker äfthetifcher Befriedigung begleitet fein.
Wenn Rembrandt in feinen Landfchaften feine Hütten, Uhde in feinen
biblifchen Bildern die Menfchen und Innenräume mit ihrer Einrichtung
nach dem Maßftab der Gattungsvollkommenheit geftaltet hätte, fo
würde dies eine ungeheure Schädigung des eigentümlichen Künftler-
tums diefer Meifter bedeuten. Die Gattungsvollkommenheit trägt ohne
Zweifel überaus häufig zur Schönheit, Anmut, Erhabenheit u. f. w. in
hohem und entfcheidendem Grade bei. Allein es wäre verkehrt, fie
zum allein entfcheidenden Maßftab des äfthetifchen Wertes zu er¬
heben. Wie unmöglich dies ift, geht auch daraus hervor, daß dann
die Angehörigen einer jeden Pflanzen- und Tiergattung, fobald nur
die Forderung der Gattungsvollkommenheit erfüllt wäre, den gleichen
äfthetifchen Wert befitzen müßten. Solche äfthetifch wenig ergiebige
Tiere wie Regenwurm, Stubenfliege, Kohlweißling, Sperling, Schwein
würden, wenn fie nur der Gattungsvollkommenheit entfprächen, auf
Wider die
Vollkom-
menheits-
äfthetik.