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Dritter Abfchnitt: Normative Grundlegung der Äfthetik.
Die
einfeitige
Gehalts-
äfthetik.
Kunftgewerbes, die Experimente über das Gefallen am Rhythmus
innerhalb der Äfthetik der Ton- oder Dichtkunft behandelt werden.
Der Grund aber für die Verweifung diefer voräfthetifchen
Unterfuchungen auf folche fpätere Stellen liegt in dem Umftande,
daß fogar die äfthetifchen (d. h. die Einfühlung mit heranziehenden)
Unterfuchungen der elementaren Formen, weit entfernt, Anfpruch auf
grundlegende Bedeutung für die Äfthetik erheben zu dürfen, vielmehr
erft im weiteren Verlaufe der Äfthetik ihre paffenden Stellen erhalten.
Was berechtigt mich, diefe Behauptung über die äfthetifchen Unter¬
fuchungen der elementaren Formen auszufprechen?
In voller Natürlichkeit und Unbefangenheit entwickelt fich das
äfthetifche Verhalten nicht gegenüber einzelnen, aus dem Zufammen-
hang herausgeriffenen Farben, Tönen, Linien, fondern gegenüber den
Dingen der Wirklichkeit und den Kunftwerken. Sich vor elementaren
Farbenzufammenftellungen, Tonfolgen u. dgl., wie fie zum Zweck des
Experiments hergeftellt werden, eine äfthetifche Bewußtfeinshaltung zu
geben, ift etwas Künftliches. Man wird daher zweckmäßiger Weife
die Grundlegung der Äfthetik nicht durch Unterfuchungen über das
äfthetifche Verhalten vor elementaren Farben, Formen, Tönen vor¬
nehmen, fondern lieber fofort an das vollentwickelte äfthetifche Ver¬
halten herantreten und aus ihm die äfthetifchen Funktionen und Er-
fordemiffe analyfierend zu gewinnen fuchen. Jene künftlich herbei¬
geführte Bewußtfeinshaltung ift eben ihrer Künftlichkeit wegen weit
weniger geeignet, in muftergültiger Weife den Typus des Äfthetifchen
darzuftellen, als das äfthetifche Betrachten von Kunftwerken und Natur¬
dingen. Diefes allein ift feiner Unbefangenheit, Unwillkürlichkeit,
Sicherheit und Lebendigkeit wegen der zweckmäßige Ausgangspunkt
für die Gewinnung der grundlegenden äfthetifchen Sätze. Ich ftehe
hierin in Gegenfatz zu Lipps, der insbefondere die Analyfe des Ein-
• •
drucks einfachfter Raumformen als grundlegende Arbeit für die Äfthetik
fordert, und zu Wundt, der in allen äfthetifchen Grundfragen den Aus¬
gang von den „äfthetifchen Elementargefühlen“ genommen fehen will.1)
7. Der formaliftifchen Äfthetik fteht als entgegengefetzte Ein-
feitigkeit das Zuviel an Gehaltsäfthetik gegenüber, wie es vor allem
in der fpekulativen deutfchen Äfthetik vorliegt. Hier wird der Gehalt
derart in den Vordergrund gerückt, daß die Form darüber vernach-
läffigt erfcheint. Das Intereffe, die Begeifterung, die Sehnfucht diefer
*) Wundt, a. a. O., S. 180 f., 195, 201.