Sechftes Kapitel: Ablehnung der formaliltifchen Äfthetik.
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4. Ich wähle ganz einfache Beifpiele. Wenn wir mit dem Auge
einem Säulenfchaft von unten nach oben folgen, fo wird uns bei
künftlerifch gefteigertem Sehen mit dem Gefichtseindruck zugleich
der Eindruck des Aufwärtsftrebens zu teil, fei es, wie bei der dorifchen
Säule eines fchwerfälligeren, fei es, wie bei der jonifchen, eines
leichteren und freieren. Und geben wir uns im befonderen etwa
dem Betrachten der Säulenbafis hin, fo gewinnt, wenn wir einen Fall
der attifch-jonifchen Ordnung vor uns haben, die Verbindung von
Trochilus und Torus fchon füi den Augeneindruck ein eigentümliches
Leben: fo etwas wie ein Ausholen und Sichzufammennehmen zum
Aufftieg, wie ein Rhythmus von vorbereitender Ausweitung und An-
fpannung fcheint aus den Formen zu fprechen. Und ebenfo kann
unfer Auge lieh dem jonifchen Kapitell nicht anfehmiegen, ohne daß
diefes nicht zugleich ein heiter fpielendes, in feinen Äußerungen
freundlich entgegenkommendes Leben zu atmen fchiene. Ich will
hiermit das reichbewegte Spiel von Strebungen und Lebensäußerungen,
das in der Säule zum Ausdruck kommt, nicht im entfernteften zu
erfchöpfender Bezeichnung gebracht haben; fondern nur foviel follte
angedeutet werden, daß lieh dem Gefichtseindruck immer fchon
Stimmungsgehalt einverleibt. Für die Baukunft hat befonders Hein¬
rich Wölfflin in ebenfo klarer wie intimer Weife das in den Formen
fich ausdrtickende menfchliche Lebensgefühl an einer Fülle von Bei-
fpielen bewiefen.1)
Oder man nehme etwa eine griechifche Vafe. Indem das Auge
die Formen begleitet, offenbart fich uns auch hier zugleich die in
ihnen waltende Seele. Wir nehmen ein Spiel und Gegenfpiel leben¬
diger Kräfte wahr, etwa milde Spannungen und fanfte Löfungen, leichtes,
fiegreiches Streben und einfehränkendes, beruhigendes Gegenftreben,
ein maßvoll heiteres Sichausleben klarer Kräfte. Wenn das Auge fich
den Formen hingibt, werden ungetrennt davon dem Gefühle diefe
Formen in der angedeuteten Weife lebendig. Und fo kommen denn
die Formen als folche überhaupt nicht dazu, Wohlgefallen zu erwecken.
Sie find für unfer frifches und kräftiges Schauen immer fchon als aus¬
drucksvolle Formen vorhanden.
Oder man verfetze fich endlich in die Tonwelt. Indem unfer
*) Heinrich Wölfflin, Prolegomena zu einer Pfychologie der Architektur.
München 1886. Renaiffance und Barock. München 1888. Wölfflin hätte auch
bei der Pfychologie der Einfühlung mehrfach zur Beftätigung herangezogen werden
können.
Johannes Volkelt, Syftem der Äfthetik. I. Band.
Wider-
legung
durch die
Stimm ungs-
künfte.
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