Fünftes Kapitel: Die Anfchaulichkeit in der Dichtung.
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Wort eine Anfchauung entliehen folle. Die Phantafieanfchaulichkeit von der
ill in einer freieren Weife zu nehmen, derart nämlich, daß, je nach ^“uikh-
Sinn und Zufammenhang, es auch erft nach einer Reihe von Wörtern, keit.
unter denen es auch völlig anfchauungslofe geben kann, zu einer
Phantalieanfchauung zu kommen braucht. Nur foviel ill nötig, daß
alle diefe anfchauungslofen Wörter unwillkürlich auf die nächll be¬
nachbarte Phantalieanfchauung bezogen werden, gleichfam alfo durch
diefe gedeckt erfcheinen.
Wenn ich bei Goethe lefe „Da droben auf jenem Berge Da lieh
ich taufendmal An meinem Stabe gebogen Und fchaue hinab in das
Tal“, fo wäre es abgefchmackt, zu erwarten, daß bei jedem Worte
ein Phantafiefehen oder Phantaliehören zu flande komme; fondern es
bildet lieh im Lauf diefer Strophe vor unterem inneren Auge eine
einzige Anfchauung aus. So fchwebend und ungefähr fie fein mag
im Vergleich zu der linnlichen Wahrnehmung: die Anfprüche der
Phantalie finden darin ihre Befriedigung. Oder man nehme die erlle
Strophe des Erlkönig: im Verlauf der vier Zeilen gebiert und geftaltet
fich das ungefähre Bild des durch die Nacht hinreitenden Paares.
So fchwankend diefes Phantafiefehen ill, wir empfinden es doch als
befriedigende Anfchaulichkeit.
7. Bei weitem entfeheidender ill folgender Gefichtspunkt ; ja ich 3^ Betonte
halte ihn für den wichtigllen in unterer Frage. Wir empfinden als
Phantafieanfchaulichkeit nicht bloß das ausdrückliche Phantafiefehen
und Phantaliehören, fondern auch die betonte Gewißheit der möglichkeil
Phantafieanfchauungsmöglichkeit. Wir fühlen uns auch fchon
dann phantafiemäßig angeregt, gleichfam in das Element der inneren
Anfchauung getaucht, wenn wir mit Nachdruck auf den Anfchauungs-
wert der gewählten Worte hingewiefen werden. Es kommt nur dar¬
auf an, daß uns der Dichter durch Wahl und Verknüpfung der Worte
fühlen laffe, daß er anfehauungsgefättigte Worte zu geben bemüht
und im Hände fei. Auch wenn wir dann die Anfchauungen, auf
welche die Worte und Wendungen angelegt find, nicht wirklich voll¬
ziehen, fo haben wir doch die Gewißheit, daß die Worte und Wen¬
dungen auf Anfchauung angelegt find, und daß wir fähig find, diefe
in den Worten gleichfam eingewickelt liegenden Anfchauungen auch
wirklich mit unferer Phantalie zu vollziehen. So ift hier alfo eine
Stellvertretung für die wirkliche Phantalieanfchauung vorhanden: fie
belteht in der Gewißheit des Gegebenfeins von Worten mit Harken
Anfchauungswerten, in der Gewißheit, daß uns Harke Anfchauungen
Johannes Volkelt, Syltem der Äfthetik. I. Band. 27