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Dritter Abfchnitt: Normative Grundlegung der Ällhetik.
Letzten
Endes eine
vielgliedrige
äfthetifche
Norm.
Gefchicht-
liches.
jener Mehrheit von Urfprtingen und Normen kann lieh das Äfthetifche
darum doch zur geiftigen Entwicklung des Menfchen, zu feinem
Gefamtziele derart verhalten, daß es darin ein in fich übereinftimmen-
des bedeutfames Glied, eine unerfetzlich eigenartige Seite bildet. Und
wir werden fehen, daß in der Tat die vier Urfprünge und Normen
in einen in fich zufammenftimmenden Ziel-Inbegriff zufammenlaufen.
Die vier Urfprünge und Normen, fo werden wir fehen, ergänzen ein¬
ander wechfelfeitig, derart daß dabei eine bedeutfame und eigenartige
einheitliche Ziel- und Wertrichtung menfchlichen Geifteslebens heraus¬
kommt.
Genügt das Äfthethifche diefer teleologifchen Einheit, fo hebt
fich die Getrenntheit des Urfprunges als ein Untergeordnetes darin
auf. Die vier Normen erfcheinen jetzt als die vier einander eben¬
bürtigen Seiten eines einheitlichen Normen-Inbegriffs. Die höchfte
äfthetifche Norm befteht eben in der fich wechfelweife ergänzenden,
durch einheitliche menfchliche Wertrichtung zufammengehaltenen und
fo felbft eine Werteinheit bildenden Vierheit von Normen.
Ich mache fonach hier, wie an fo vielen anderen Stellen der
philofophifchen Wiffenfchaften, die Erfahrung, daß ich dem üblichen
Vereinfachungseifer entgegentreten muß. Das Äfthetifche kann nicht
aus einem einzigen Prinzip, einer einzigen Norm, einer einzigen
pfychologifchen Grundtatfache begriffen werden. Durch die Einheits-
fucht erführe das Äfthetifche Einzwängung oder Verarmung.
6. Sieht man fich in der äfthetifchen Litteratur der letzten Zeit
um, fo begegnet man verfchiedenen Verfuchen, das Äfthetifche auf
eine einzige pfychologifche Grundtatfache oder — teleologifch aus¬
gedrückt — auf eine einzige Norm zurückzuführen. So geht durch
das oftgenannte Werk Konrad Langes die Überzeugung, daß das
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Äfthetifche einzig in dem Vorgänge der Illufion oder genauer: der
bewußten Selbfttäufchung beftehe. Die Illufion ift das A und O, auf
das Lange immer wieder zurückkommt.1) Tn gewiffem Grade damit
verwandt war die frühere Anficht von Groos. In feiner Einleitung
in die Äfthetik glaubt er die gemeinfame Quelle des Äfthetifchen in
der „inneren Nachahmung“ gefunden zu haben. Sowohl die äfthe¬
tifche Form wie der äfthetifche Gehalt follen aus der einen Tätigkeit
entfpringen, die er als ein innerliches Wiederholen, als ein „Nach-
*) Auch fchon in dem programmartigen Schriftchen „Die bewußte Selbft¬
täufchung als Kern des künftlerifchen Genuffes“ (Leipzig 1895) hat Lange diefelbe
Auffaffung vertreten.