Achtzehntes Kapitel: Das äfthetifche Urteil.
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dem man nach mancherlei Herumraten und Probieren kommt, den
Preis diefer Unruhe und Ratloßgkeit nicht wert ilt (wie dies von fo
vielen Erzeugniffen der modernen fymboliftifchen Richtung gilt). Über¬
haupt aber gibt ein Gegenftand, der zum Nachdenken auffordert, mehr
zu Verftändnisurteilen Anlaß als ein fchlichter und harmlofer Gegen¬
ftand. Man denke etwa an Klingers Beethoven im Vergleiche zu
einer Geftalt von Arthur Volkmann. Werturteile wiederum werden
befonders dann in Fülle und fchon während des Genießens hervor¬
gerufen, wenn das Kunftwerk den gewohnten Werten und Idealen
widerfpricht, dem Gefchmack des Publikums neue Aufgaben (teilt und
vielleicht gar eine den Meiden unbequeme Richtung einfehlägt. Zu
welcher Mafle von Werturteilen wurde nicht in der Zeit des Empor¬
kommens der Tonfchöpfungen Wagners das Publikum fchon während
der Bühnenaufführung felbft aufgeregt!
5. Schließlich ilt noch darauf hinzuweifen, daß von den äfthe-
tifchen Urteilen, auch wo fie die künftlerifche Stimmung durchkreuzen
und abfehneiden, doch ein bedeutender mittelbarer Nutzen für das
künftlerifche Betrachten und Genießen ausgehen kann. Die Klärungen,
Ordnungen, Begründungen, zu denen wir durch unfere älthetifchen
Urteile gelangen, bleiben nicht ohne Einfluß auf das folgende älthe-
tifche Verhalten. Habe ich mir die vortrefflichen und abftoßenden
Seiten, Hochdichterifches nnd Gefchmacklofes etwa von mehreren
Gedichten Dehmels zurechtgelegt, fo gehen die hierbei gewonnenen
Unterfcheidungen in mein äithetifches Fühlen derart ein, daß bei dem
weiteren Lefen feiner Gedichte nun fchon von vornherein die auf¬
nehmende Haltung meines Bewußtfeins feiner, angemeffener, vor¬
bereiteter ift. Oder wenn ich mir an einem Luftfpiel Shakesfpeares
die Verbindung hochphantaftifcher Schwärmerei und rückfichtslos derber
Natur, übermütigen Spiels und finnreichen Tiefblicks, lächelnden
Humors und polfenhafter Komik klargemacht habe, fo wird, wenn
ich demnächft diefes Luftfpiel nochmals lefe oder auch ein anderes
feiner Luftfpiele vornehme, mein Gefühl fofort ficherer, durchgebildeter
und verftändnisvoller antworten. Wenn alfo auf der einen Seite das
äfthetifche Urteil freilich dem Betrachten und Genießen mancherlei
Wunden fchlägt, fo führt es doch anderfeits zugleich bedeutfame Kräf-
tigungs- und Verfeinerungsmittel für Betrachten und Genießen mit fich.
Es läßt fich mit Rückficht hierauf ein doppeltes äithetifches
Genießen unterfcheiden: ein naives und ein durchgebildetes.
In das durchgebildete Genießen find äfthetifche Urteile in umfang-
Nutzen der
äflhetifchen
Urteile.
Naives und
durch-
gebildetes
Äithetifches
Qenieöen.