Achtzehntes Kapitel: Das älthetifche Urteil.
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wie doch hier die fchlichte biblifche Gefchichte zur Entfaltung der
Pracht und Weltluft der Renaiffance benutzt wird! Dann können
Urteile über die treffliche Kompofition des Bildes in mir entliehen.
Oder ich kann mich der ungeheueren Arbeitskraft und Schaffens¬
leichtigkeit des Meifters erinnern. Vielleicht Helle ich einen Vergleich
mit Tizian an u. dgl. Alle diefe Urteile können ein unfchädliches
Nebenher bilden, das die künftlerifche Verfenkung in das Gemälde
in keiner Weife merklich Hört. Man muß lieh davor hüten, das äfthe-
tifche Verhalten in allzu akademifche und regelmäßige Formen zwängen
zu wollen.
3. Hier gilt es, vor einer Verwechfelung zu warnen. Es gibt
Urteile, die unmittelbar einen Teil des äfthetifchen Gegenftandes
bilden. Diefe Urteile gehören natürlich nicht hierher. In unterem
Zufammenhange haben wir es nur mit Urteilen über den äfthetifchen
Gegenftand zu tun. Wenn dagegen der älthetifche Gegenftand felbft
teilweife aus Urteilen befteht, fo ift natürlich diefes Urteilen geradefo
wie das Anfchauen oder Fühlen ein Beftandteil des ganz eigentlichen
äfthetifchen Verhaltens. Ich will diefe Urteile gegenftändlich ge¬
forderte Urteile nennen.
Was hier gemeint ift, kommt allenthalben in der Dichtkunft vor.
Man nehme irgend eine Erzählung. Sie verläuft in einer Aneinander¬
reihung von Urteilen. Diefe Urteile haben wahrfcheinlich großenteils
Einzeldinge zum Subjekt. Doch finden fich daneben auch Urteile,
deren Subjekt ein Begriff ift. Zum äfthetifchen Aufnehmen und Ge¬
nießen der Erzählung gehört daher ohne Zweifel, daß wir die vom
Dichter in der Sprache niedergelegten Urteile vollziehen. Nun find
diefe Urteile allerdings, falls die Erzählung ktinftlerifch gehalten ift,
nicht abgefonderte Denkakte, fondern fie verlaufen gefühlsmäßig und
anfchaulich; es ift ein Urteilen, das fich in Verfchmelzung mit Phantafie-
anfehauung und in Begleitung von Gemütsbewegungen vollzieht. Aber
ein Urteilen bleibt es darum doch.
Und ebenfo verhält es fich mit dem Drama. Man denke etwa
an Wallenftein, Taffo, Fault: felbft Urteile, die allgemeine Wahrheiten
enthalten, gibt es in ihnen die Fülle. „Es irrt der Menfch, fo lang
er ftrebt“; „die Sorge niftet gleich im tiefen Herzen“; „Genießen
macht gemein“; „dem Tüchtigen ift diefe Welt nicht ftumm“; „alles
Vergängliche ift nur ein Gleichnis“: diefe allgemeinen Urteile aus
Fault find Teile des äfthetifchen Betrachtens und Genießens felbft.
Und fo gibt es natürlich auch in der Lyrik gegenftändlich geforderte
Gegen¬
ftändlich
geforderte
Urteile.