Sechzehntes Kapitel: Das äfthetifche Beziehen und Gliedern. 327
Genüge geleiftet, wenn von einem Tifch, einem Haus, einem Baum,
einem Wege foviel in das Bewußtfein fällt, daß es eben ein Tifch,
Haus, Baum, Weg ift. Auf die in den Teilen und Merkmalen diefer
Dinge hervortretende Gruppierung und Ordnung kommt es nicht an;
fo achten wir denn auch nicht oder nur ungefähr darauf. Eine folche
Haltung unferes Bewußtfeins würde das äfthetifche Betrachten zerftören
oder überhaupt nicht aufkommen lalfen. Hier ift vielmehr die Auf-
merkfamkeit mit Hingebung den in der finnlichen Anfchauung hervor¬
tretenden Beziehungen zugewendet. Im äfthetifchen Betrachten wird
foviel Einheit und Gliederung, foviel Gefchloffenheit und Vermannig-
faltigung, foviel Ober-, Unter- und Nebenordnung, als uns durch die
Sinnenform der Gegenftände dargeboten wird, auch aufmerkfam auf¬
gefaßt. Die beziehende Funktion durchfetzt unter begleitender Auf-
merkfamkeit das finnliche Anfchauen in folchem Grade, als es durch
den jeweilig gebotenen Anfchauungsftoff möglich gemacht ift. Dies
gilt von dem griechifchen Tempel geradefo wie von einem Bilde
Liebermanns, von einem Drama oder einer Sonate ebenfo wie von
den äfthetifch betrachteten Gehalten der Wirklichkeit. Die Steigerung
des Gliederns im äfthetifchen Verhalten macht es begreiflich, daß es
künftlerifche Betrachter gibt, die in den ineinandergreifenden Gliede-
rungszufammenhängen geradezu myftifch fchwelgen.1)
4. Wie in fo vielen Stücken, fo nimmt auch rückfichtlich der
Funktion des Beziehens die Kunft eine andere Stellung ein als das
Naturäfthetifche. Der Künftler richtet feine Schöpfungen fo ein, daß
im Betrachter die Funktion des Beziehens zu einer möglichft voll¬
kommenen Leiftung kommt. Er gibt feinem Kunftwerk eine folche
Anordnung in Merkmalen und Teilen, daß es gemäß der Funktion
des Beziehens als möglichft durchgearbeitet erfcneint. Infolge der
künftlerifchen Arbeit wird der Betrachter in den günftigen Fall ge¬
fetzt, daß er die Funktion des Beziehens in möglichft mühelofer und
möglichft deutlicher Weife und mit dem Erfolge ausübt, daß ihm das
Kunftwerk in möglichft hohem Grade als ein wechfelfeitig in fleh
bezogenes Ganzes gegenwärtig wird.
Die Funktion des Beziehens hat zwei Seiten: fie ift Scheidung
und Verknüpfung, Gliederung und Zufammenfaffung. Demgemäß
kann die foeben ausgefprochene Forderung an den Künftler auch
fo zum Ausdruck gebracht werden: das Kunftwerk foil fowohl die
*) Man lefe etwa in Solgers Erwin S. 201.
Die
Funktion
des
Beziehens
in der
Betrachtung
von Kunfl-
werken.