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Zweiter Abfchnitt: Befchreibende Grundlegung der Äfthetik.
Temperatur¬
empfin¬
dungen.
in dem Betrachter Kraft- und Druckempfindungsreproduktionen ent¬
liehen, die mit dem Gefichtseindruck verfchmelzen. Auch hier find
natürlich diefe Empfindungen nicht ein Letztes; es wäre eine falfche
Befchreibung des inneren Vorganges, wenn man fagen wollte: die
ganze Einfühlung beftehe darin, daß die Raumformen fo ausfehen,
als ob wir in ihnen Schweres oder Leichtes empfänden. Sondern
es kommt weiter darauf an, daß fich in Anknüpfung an die Repro¬
duktionen der Kraft- und Druckempfindungen das entfprechende
finnlich-geiftige Lebensgefühl entfaltet, als deffen Ausdruck dann die
Raumform erfcheint.
Hieran reihen fich Fälle, in denen fich an der Einfühlung die
Empfindung des Harten und Weichen beteiligt. Es gibt Formen,
die hart,- andere, die weich erfcheinen. Wenn ich freilich von den
weichen Formen einer nackten weiblichen Geftalt von Tizian oder
von den harten Formen an dem David oder Johannes dem Täufer
von Andrea del Verrocchio fpreche, oder wenn ich die Form eines
Pfirfichs als weich bezeichne oder von einem Apfel fage: er fieht
hart aus, fo gehört dies nicht hierher. Denn mit diefen Bezeich¬
nungen ift die Ergänzung des Gefichtseindrucks durch die im eigent¬
lichen Sinn verftandenen reproduzierten Tafteindrücke gemeint. Man
will fagen: wenn man die weiblichen Geftalten, die Tizian gemalt
hat, oder die männlichen Geftalten, die Verrocchio dargeftellt hat, in
ihrer Wirklichkeit betaften könnte, fo würde man dort die Empfindung
des Weichen, hter die des Harten haben; und ebenfo: wenn wir den
Pfirfich oder den Apfel wirklich befühlten, fo würde uns die Emp¬
findung des Weichen oder des Harten zu teil werden. Wenn wir
dagegen die Formen gotifcher Geräte als hart empfinden im Ver¬
gleiche zu Renaiffanceformen, fo find hier die Taftempfindungen in
fymbolifchem Sinne verwandt. Behält doch die Bezeichnung ihre
volle Gültigkeit, auch wenn die verglichenen Erzeugniffe aus dem-
felben Metall hergeftellt, alfo für das wirkliche Empfinden gleich
hart find.
Auch Temperaturempfindungen können bei Betrachtung von
Raumformen fymbolifch eingreifen. Auch abgefehen von der Farbe
kann fchon die Formgebung als folche den Eindruck des Warmen
oder Kalten hervorrufen. So habe ich das Gefühl: die Formen der
Renaiffancebaukunft beifpielsweife erfcheinen kühl im Vergleiche mit
den Formen moderner Bauftilverfuche. Der moderne Bauktinftler ift
beftrebt, die Formenfprache, die er durch die Bauglieder und ihre