Zwölftes Kapitel: Einfühlung, Affoziation, Verfchmelzung, Nachahmung. 243
bärde die feelifchen Erregungen ausfchließlich unmittelbar, alfo ohne
Bewegungsempfindungen und ohne Erfahrungswiffen, fchließen. Wäre
es fo, dann würden fich die feelifchen Erregungen rein nur durch die
Ähnlichkeit der gefehenen Gebärde mit diefen Erregungen einfinden.
Wohl aber ift es möglich, daß neben den Bewegungsempfindungen
und neben dem Erfahrungswiffen auch die Ähnlichkeit des Gefichts-
eindruckes der Gebärde mit dem entfprechenden Affekt für die Hinzu-
gefellung diefes Affektes maßgebend ift. Mit andern Worten : es kann
fich mit motorifcher und affoziativer Einfühlung optifche Einfühlung
als Teilfunktion verbinden. Soweit dies der Fall ift, wirkt Affoziation
nach Ähnlichkeit mit der anderen Form der Affoziation zufammen.
In befonderem Grade dürfte die Affoziation nach Ähnlichkeit
bei der Einfühlung in die feilen, der Willkür entzogenen menfchlichen
Leibesformen Vorkommen. Ich hob fchon in dem vorigen Kapitel
hervor (S. 230 f.), daß hier vielleicht fogar rein optifche Einfühlung
möglich ill. Jedenfalls kann hier optifche Einfühlung, alfo Affoziation
nach Ähnlichkeit in hohem Grade mitfpielen. Gewiffe Formen von
Stirn, Nafe, Mund, Kinn haben fchon als Gefichtseindruck Verwandt-
fchaft mit einem edlen und klaren Geift, andere mit gemeinem, un¬
geordnetem, wildem Sinn. Gewiffe unregelmäßige, unförmliche,
herausfahrende, emporgeworfene, verkümmerte, verkrüppelte Formen
beifpielsweife erwecken an fich felbft die Vorltellung von einem ge¬
meinen, befchränkten, wülten Wefen. Hier wirkt Affoziation nach
Ähnlichkeit mit.
So fehr indeffen auch die Affoziation nach Ähnlichkeit eingreifen
möge, fo bleibt doch in der eigentlichen Einfühlung der Affoziation
gemäß Bewußtfeinsnachbarfchaft bei weitem die erfte Stelle gewahrt.
Von den Schriftltellern, die über die Einfühlung gehandelt haben, be-
fchäftigt fich insbefondere Paul Stern mit der Bedeutung der beiden
Formen der Affoziation für das älthetifche Verhalten.1)
5. Wieder völlig anders ift über das Verhältnis von Affoziation
und Einfühlung zu urteilen, wenn unter Affoziation das unmittelbare
Nach- und Nebeneinander von Bewußtfeinsinhalten verftanden wird.
Affoziation ift hier das Gegenteil des Ineinanderfeins; fie ift Aneinander-
gereihtfein. Affoziation in diefem Sinne findet nicht nur etwa ftatt
beim Zählen, beim Herfagen der Wochen oder Monatsnamen, über-
i) Paul Stern, Einfühlung und Affoziation in der neueren Äfthetik. Hamburg
und Leipzig, 1898. S. 58 ff., 70 ff.
Affoziation
als Verbin¬
dung des un¬
mittelbaren
Nach- und
Neben¬
einanders.
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