Elftes Kapitel: Die äfthetifche Einfühlung der eigentlichen Art.
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in (ich zu bemerken. Es kann ficherlich nicht als Regel gelten, daß
die uns durch Dichtungen gegebenen Phantafiebilder menfchlicher
Bewegungen von den entfprechenden reproduzierten Bewegungs¬
empfindungen begleitet werden.1) Anders als in der Dichtung liegt
die Sache dort, wo die menfchlichen Bewegungen unterer Gefichts-
wahmehmung dargeboten werden. Hier dürfte wohl das Fehlen jener
Reproduktionen in der Mehrzahl der Fälle mehr oder weniger einen
geringeren Grad der Frifche und Kraft des äfthetifchen Betrachtens
bedeuten. Daher kennzeichnet fich befonders das wiederholte, durch
Bekanntheit mit dem Gegenftand abgeftumpfte künftlerifche Betrachten
durch das Fehlen jener Reproduktionen. Hier tritt uns das Erfetzt-
fein diefer durch unter Erfahrungswiffen von der Bedeutung der Be¬
wegungen augenfällig entgegen. Groos hat Recht, wenn er dem
Unterfchied zwifchen neuer und durch Gewohnheit abgefchwächter
äfthetifcher Betrachtung eines beftimmten Gegenftandes Wichtigkeit
für die Bedeutung diefer Fragen beimißt.2)
Was die Dichtung betrifft, fo nehmen natürlich folche Fälle eine
befondere Stellung ein, wo der Dichter durch entfprechende Worte
den Lefer ausdrücklich zu Bewegungsempfindungen auffordert. Worte,
die unmittelbar Bewegungsempfindungen bezeichnen, dürfen nicht als
Beleg dafür angeführt werden, daß Bewegungsbilder, die der Dichter
für das Phantafiefehen liefert, von Bewegungsempfindungen begleitet
werden. Wenn es bei Schiller in dem Gedichte „Das Ideal und das
Leben“ heißt, daß fich des Fleißes Nerve fpanne, fo wird der Lefer
auf das Erzeugen von Spannungsempfindungen förmlich hingewiefen.
Hierher gehören auch die beiden von Roetteken angeführten Beifpiele :
ein Dichter fchildere, wie jemand vor einem blendenden Lichtftrahl
die Augen fchließt, oder wie jemand infolge eines plötzlichen ftarken
Schalles zufammenfchrickt. Roetteken verfichert, daß hierdurch in ihm
Bewegungsempfindungen reproduziert werden.3) Hierbei ift aber zu
1) in der feinen und wertvollen Unterfuchung, die Hubert Roetteken in
feiner Poetik (Erfter Teil. München 1902) über die Bewegungsempfindungen anftellt,
die in uns im Anfchluß an die Worte des Dichters entliehen, berichtet er aus
eigener Erfahrung, daß, wenn der Dichter von Gehen, Schreiben u. dgl. fpricht, ei
von Bewegungsempfindungen und Reproduktionen folcher wenig oder nichts fptirt.
Dagegen fpürt Roetteken, wenn der Dichter Körperhaltung und Gefichtsausdruck be-
fchreibt, deutlich mindeftens Reproduktionen von Haltungs- und Bewegungsempfin¬
dungen. So wenigftens glaube ich die Angaben auf S. 67 ff. verliehen zu müffen.
2) Groos, a. a. O. S. 186, 188, 198, 210 und fond.
3) Roetteken, a. a. O. S. 70.