Elftes Kapitel: Die äfthetifche Einfühlung der eigentlichen Art. 215
liehe und die fymbolifche Einfühlung völlig ungetrennt oder doch zu
wenig getrennt voneinander behandelt werden. Ich will daher zu-
nächlt alle die Schwierigkeiten und Verwicklungen, die durch den
fymbolifchen Charakter der Einfühlung entliehen, femhalten.
3. Zuerll gilt es feftzuftellen, was in der älthetifchen Einfühlung
unwiderfprechlich erlebt wird. Wenn ich Niobe und ihre lieh fchutz-
fuchend an lie fchmiegende Tochter betrachte, fo erfahre ich in mir
nicht etwa das Anfchauen für lieh und das Fühlen für lieh und dann
noch ein in Beziehung Setzen der einen Seite zur anderen. Es ill
nicht fo, daß die reine Wahrnehmung der Linien- und Flächenver-
hältniffe die eine Seite bildete und daneben das fei es wirkliche, fei
es vorllellungsmäßige Erleben von Gefühlen der Angll, des Hilfe-
fuchens, des Bergenwollens vorhanden wäre und nun zwifchen beiden
Seiten ein beziehendes, vergleichendes, verknüpfendes Hin- und Her¬
gehen llattfände. Weder finde ich in mir ein kahles, kaltes, leeres
Wahrnehmen, noch ein geändertes anfchauungslofes, rein innerliches
Fühlen, noch auch ein von der einen Seite zur anderen fich begebendes
Knüpfen. Auch wenn diefe drei Vorgänge nicht als ein Nacheinander,
fondern als gleichzeitiges Nebeneinander im Bewußtfein angenommen
würden, fo wäre damit die Einfühlung keineswegs richtig bezeichnet.
Freilich handelt es fich in der Einfühlung um ein Gleichzeitiges, aber
eben nicht um ein gleichzeitiges Nebeneinanderbellehen und Neben¬
einandervorgehen. Was im Einfühlen gleichzeitig im Bewußtfein vor¬
kommt, belteht nicht aus leerem, fühllofem Wahrnehmen und rein
innerlichem, anfchauungslofem Fühlen und zufammenbringendem Ver¬
knüpfen. Ein gleichzeitiges Nebeneinander findet z. B. im Bewußtfein
ftatt, wenn ich eine Flüffigkeit zugleich betrachte und berieche. Hier
weift das Bewußtfein eine Gefichtswahrnehmung und daneben eine
Geruchsempfindung auf, und zwifchen beiden findet gleichzeitig ein
Beziehen ftatt: ich fehe den Geruch als ausgehend von der Flüffigkeit
an. Ein folcher in fich getrennter Vorgang ift die äfthetifche Ein¬
fühlung weder in dem herangezogenen Beifpiel noch irgend anderswo.
Vielmehr erfcheint die Wahrnehmung der Niobe und ihrer Tochter fo
innig eins mit den Gefühlen von Angll, Entfetzen, Hilfefuchen u. dgl.,
daß fie an fich felber den Eindruck diefer Gefühle macht. Die Ge¬
fichtswahrnehmung hat als folche das Ausfehen der entfprechenden
Gefühlserregungen. Die Gefühle kommen überhaupt in meinem Be¬
wußtfein nicht noch irgendwie neben der Wahrnehmung von den
Formen der Niobe vor, fondern fie werden von mir lediglich als
Eigent¬
liche Ein¬
fühlung:
Tat-
beltand.