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Zweiter Abfchnitt: Befchreibende Grundlegung der Äfthetik.
ift eigentliche Einfühlung von Stimmungen. In der zweiten Gruppe
von Fällen findet ein folches Sichdecken nicht ftatt: Gefchautes und
Eingefühltes laufen auseinander, gehören ihrer Natur nach nicht zu-
fammen; es befteht zwifchen beiden Seiten eine fühlbare Kluft. Wenn
nun trotzdem durch die Einfühlung beide Seiten vereinigt werden
und diefe Vereinigung als äfthetifcher Genuß gefpürt wird, fo ift dies
nur dadurch möglich, daß die menfchlichen Stimmungen, mit denen
wir die untermenfchlichen Gebilde befeelen, in uneigentlichem oder
fymbolifchem Sinne genommen werden. Hier liegt alfo fymbolifche
Stimmungseinfühlung vor.
Ich brauche kaum Beifpiele zu geben. Sehen uns die Götter¬
gebilde der griechifchen Bildhauer ftimmungsbefeelt an, fo liegt hierin
nichts Symbolifches. Ebenfowenig, wenn uns anmutige Tänze diefen
oder jenen Stimmungsausdruck zu haben fcheinen. Wenn ich dagegen
beifpielsweife Lenau auffchlage und lefe, daß diefer Dichter den Eichen¬
wald mürrifch braufen, die Natur Sterbefeufzer hauchen, die See
gleichgültig in ihrem alten Gange fortwallen, das Geflügel (ich träu-
merifch im Schilfrohr regen läßt, fo liegt hier fymbolifche Stimmungs-
einftihlung vor. Oder wenn mir die Farben Tizians den Eindruck
heiterer, blühender Lebensfülle machen oder die Farben Liebermanns
den Ausdruck herber, rückfichtslos wahrheitsmutiger Männlichkeit zu
haben fcheinen, fo haben wir es zweifellos mit Stimmungsfymbolik
zu tun. Ebenfo wenn mir die Zieraten an gotifchen Gerätfchaften
als eigenfinnig kraftvoll, die Linien an Renaiffancegegenftänden als
leicht und edel fließend erfcheinen.
Ich will nun der Einfachheit wegen zunächft von der fymbolifchen
Stimmungseinfühlung abfehen. Aber auch auf die anderen Möglich¬
keiten fymbolifcher Einfühlung will ich zunächft keine Rückficht nehmen.
Es bleiben alfo auch alle fymbolifchen Einfühlungen, in denen es
fich nicht um Stimmungen, fondern um beftimmte, mit ausgeftalteten
Vorftellungen und Gedanken verknüpfte Gefühle handelt, vor der
Hand beifeite liegen. Darftellungen wie Michelangelos oder Rubens,
Klingers oder Stucks fymbolifche Geftalten heranzuziehen, würde die
Unterfuchung nur erfchweren. Es ift am beiten, die Natur der äfthe-
tifchen Einfühlung zunächft aus folchen Fällen kennen zu lernen, in
denen fich Gefchautes und Eingefühltes decken. Ich habe aus den
Erörterungen über die Einfühlung bei verfchiedenen Schriftftellern
den Eindruck gewonnen, daß manches von dem, was darin fchief
und unklar ift, auf Rechnung des Umftandes kommt, daß die eigent-