Neuntes Kapitel : Stellung der gegenltändl. äfthetifchen Gefühle im Gefühlsbereiche. 199
künftlerifcher Stimmung. Die von mir für das Vorkommen wirklicher
Gegenftandsgefühle gegebenen Beifpiele gelten alle nur unter der
Vorausfetzung, daß das äfthetifche Aufnehmen und Genießen wenigftens
nicht allzuweit von feinem Ideale entfernt bleibt.
11. Witafek hat Recht, wenn er ausführt, daß man fleh die äfthe¬
tifchen Gefühlsvorftellungen nicht als blaffe, oberflächliche, abftrakte
Gebilde zu denken habe; daß in ihnen vielmehr ein getreues Abbild
der gegenftändlichen Gefühlsvorgänge geleiftet werde und fonach bei
der Vertaufchung des Gefühls mit der Vorstellung inhaltlich nichts
verloren gehe. Er bezeichnet diefe vollständig wiedergebenden Ge-
fühlsvorStellungen als „anfchauliche“.1) In der Tat: fei es daß wir
den Gefühlswandlungen Othellos oder Desdemonas aufmerkfam folgen ;
fei es daß wir uns in die Gefühlszuftände etwa der kraftftrotzenden
Geftalten Donatellos oder der feelenzarten Gebilde eines Luca oder
Andrea della Robbia vertiefen: wir geben auch dort, wo wir nicht
wirklich fühlen, fondern nur die Gefühle vorStellen, den Abfichten des
Künstlers getreuen Ausdruck. Auch dem Gefühlsvorftellen geht kein
Übergang, keine Schattierung und Tönung verloren. Das Voiftellen
iff der Aufgabe, die Gefühle fein und fcharf wiederzugeben, durchaus
gewachfen. Nur fehlt natürlich die Unmittelbarkeit und Urfprünglich-
keit des wirklichen Fühlens. Es fleht daher ohne Zweifel das auf
Gefühlsvorftellungen fich gründende äfthetifche Verhalten an Kraft und
Tiefe einigermaßen zurück. Doch iSt es viel zu weit gegangen,
wenn Lipps und Groos die Gefühlsvorftellung für äfthetifch untaug¬
lich halten.2)
In der Tat muß, wenn die Tauglichkeit der Gefühlsvorftellung
für das äfthetifche Verhalten einleuchten foil, vermieden werden, der
Gefühlsvorftellung einen allzu theoretifchen, rein nur vorllellungs-
mäßigen Charakter zuzufchreiben. Man muß fich an das zu Beginn
diefes Kapitels Hervorgehobene erinnern: daß zur Gefühlsvorftellung
als ihr Nerv und Kern die Gewißheit des Ftihlenkönnens, die Gewi߬
heit der Erlebbarkeit des jeweilig vorgeftellten Gefühlsinhaltes in
eigener Seele gehört, und daß hierdurch die Gefühlsvorftellung über
das Element des bloßen Vorftellens hinausgeht und felbft in das
Gefühlselement gleichfam eintaucht. Nur wenn man fich diefe —
9 Witasek, a. a. O. S. 1 ff., 28, 32.
2) Theodor Lipps, Äfthetifche Einfühlung. In der Zeitfchrift für Pfychologie
und Phyfiologie der Sinnesorgane. Bd. 22, S. 420 f., 424 ff., 436. — Karl Groos,
Der äfthetifche Genuß. Gießen 1902. S. 189 f., 209 f.
Nochmals
die Gewi߬
heit des
Fühlen-
könnens.