Neuntes Kapitel : Stellung der gegenltändl. äfthetifchen Gefühle im Gefühlsbereiche. 189
gewöhnlich überhaupt nicht für fich zum Bewußtfein, fondern tritt
uns nur als Seite an dem durch fie zu ftande gekommenen Erfolg
gegenüber.
3. Wenn wir untere äfthetifchen Erregungen unbefangen betrachten,
fo kann, glaube ich, kein Zweifel darüber beftehen, daß die Gefühle,
mit denen wir die Gehalten erfüllen, in äußerft zahlreichen Fällen
wirkliche Gefühle find. Sobald die äfthetifche Erregung uns tief und
voll in Anfpruch nimmt, gefchieht es nicht etwa nur ausnahmsweife,
daß die gegenftändlichen Gefühle mehr als bloße Gefühlsreproduktionen
find, daß fie die frifche Farbe der Urfprünglichkeit an fich tragen.
Damit foil natürlich nicht gefagt fein, daß diefe äfthetifchen gegen¬
ftändlichen Gefühle — z. B. Liebe, Zorn — in jeder Hin ficht
denjenigen wirklichen Gefühlen gleichen, die wir im Drang und Kampf
des Lebens empfinden. Vielmehr beftehen ohne Zweifel ftarke Unter-
fchiede: die äfthetifchen Gefühle bleiben hinter den Gefühlen des
Lebens nach Stärke und Eindringlichkeit auffallend zurück. Schon
die projizierende Nebenvorftellung, von der vorhin die Rede war,
wirkt von felbft herabmindernd auf die Gefühle, die fie begleitet.
Weiterhin wird von diefen Unterfchieden genauer gehandelt wer¬
den. Was ich hier meine, geht darauf hinaus, daß es zahlreiche
gegenftändliche Gefühle im äfthetifchen Verhalten gibt, die nicht bloß
Reproduktionen und Vorstellungen von Gefühlen, fondern echte, ur-
fprüngliche, wirkliche Gefühle find. Damit ift ganz wohl verträglich,
daß fie nicht in jeder Beziehung an die Gefühle des vollen Lebens
heranreichen.
4. Denken wir an die Lyrik. Ich lefe im Frühling ein Herbft-
gedicht, im Winter ein Frühlingslied. Die Umgebung ftimmt hier
alfo nicht zu dem Inhalt der Gedichte, und man kann nicht fagen,
daß fich die durch die wirkliche Umgebung erzeugten Gefühle in das
künftlerifche Genießen eindrängen. Nun fage ich: bei lebhafter Ver¬
tiefung in das Gedicht gefchieht es meiftens, daß ich im Winter
wirklich und wahrhaft etwas von den Gefühlen des Sehnenden, Er¬
wartungsvollen, Erlöften, Lachenden empfinde, womit der Dichter die
Frühlingsnatur befeelt, und daß ich im Frühling etwas von dem
Bangen, Schwermütigen, Herben der Gefühle, die der Dichter in die
Herbftnatur hineinlegt, wirklich erlebe. Wenn ich die Gedichte, wie
man zu fagen pflegt, mit ganzer Seele lefe, wenn ich fie dürftig in
mich aufnehme, wenn fie einen innigen Widerhall in mir finden, dann
werden gewöhnlich die Gefühle, die der Dichter zur fymbolifchen
Das Vor¬
kommen
wirklicher
gegen-
ftändlicher
Gefühle.
Beifpiele aus
der Lyrik.