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Zweiter Abfchnitt: Befchreibende Grundlegung der Äfthetik.
Erftlich kommt der Fall in Betracht, wo es fich um noch nicht
äithetifche Vorbedingungen für das äfthetifche Verhalten handelt.
Gemeint find hiermit die Kenntniffe, die, fei es aus eigenem Befinnen
oder aus Katalog, Kunftgefchichte u. dgl. herangezogen werden, um
den äfthetifchen Gegenftand zu verliehen. Befonders wo uns in der
bildenden Kunft gefchichtiiche, mythologifche, religiöfe Gegenftände
dargeboten werden, wird das Heranziehen befonderer Kenntniffe nötig.
Doch gibt es auch eine Menge von Dichtungen, zu deren Veritändnis
fich felbll der Gebildete erft aus Anmerkungen, Erläuterungsfchriften
u. dgl. befondere Kenntniffe verfchaffen muß. Man denke an die
Edda, an Dante, an den zweiten Teil von Goethes Fault Ich nenne
diefe erfte Art der affoziierten Vorltellungen die vorbedingenden
Vorltellungen.
Genau genommen muß, wenn diefe Fälle hierhergehören follen,
folgende Bedingung erfüllt fein. Wenn uns eine Geburt oder Kreu¬
zigung Chrilli oder das Bildnis Luthers oder Bismarcks vorliegt, fo
ill auch hier natürlich für das Veritändnis die Kenntnis der entfprechenden
gefchichtlichen Vorausfetzungen unentbehrlich. Allein der gebildete
Betrachter im Abendlande braucht diefe Kenntnis nicht ausdrücklich
zu wiederholen; es kommt zu keiner eigentlichen Affoziation; es findet
ein abgekürzter, Itellvertretender Vorgang ltatt: der Betrachter hat die
gefühlsmäßige Gewißheit, die entfprechenden Kenntniffe zu befitzen
und fie jederzeit wiederholen zu können. Diefe Erinnerungsgewißheit
erfüllt uns beim Anblick der genannten Gegenftände derart ungetrennt
von der finnlichen Wahrnehmung, daß hier von keiner Voritellung
neben dem äfthetifchen Betrachten die Rede fein kann. Wenn uns
dagegen Matejko irgend einen Gegenftand aus der polnifchen, Pradilla
aus der fpanifchen Gefchichte vorführt, da muß auch der Gebildete
fich Erläuterungen geben laffen. Hier find außeräfthetifche Affozia-
tionen unerläßlich. Ähnlich in der Dichtkunft. Der philologifch Ge¬
bildete verlieht alle oder die meiften mythologifchen Anfpielungen
Ovids ohne weiteres; d. h.: er bedarf keiner ausdrücklichen Affoziation;
die Erinnerungsgewißheit tritt im Lefen ftellvertretend ein; der Fluß
feines äfthetifchen Betrachtens gerät keinen Augenblick ins Stocken.
Der philologifch nicht genug Gebildete dagegen muß oft durch
Suchen und Nachfchlagen, alfo durch ein mühfeliges Zuftandebringen
von Affoziationen, fich die nötigen Kenntniffe erwerben.
Es wäre nun töricht, alle folche Kunftwerke zu verwerfen oder
auch nur zu bemängeln, die an den gebildeten Betrachter die Auf-