Zweites Kapitel: Äfthetifcher Wert der verfchiedenen Sinne.
97
daß unter gewöhnlichen Bedingungen irgend etwas von der Verwick¬
lung unterer Leiblichkeit mit den herandringenden Reizen gefptirt
würde. Wir fpüren beim Hören in der Ohrengegend fchlechtweg gar
nichts. Fern von unterem Leibe, abgelöft von ihm kommt uns die
Welt des Auges und des Ohres zur Erfcheinung. Ihr Entliehen kenn¬
zeichnet lieh für uns durch keinerlei Gefühl unmittelbaren leiblichen
Bedrängtfeins. Es ill to, wie Schiller tagt: dem Auge und Ohr ill
die andringende Materie hinweggewälzt von den Sinnen.1)
Ganz anders beim Taften. Hier fpürt man die körperlichen Dinge
und Vorgänge in unmittelbarem Hautgefühl. Fall noch gröber geht
es im Schmecken zu: hier wird nicht nur das Zufammentreffen der
Dinge mit unterer Leiblichkeit, fondem auch die Zerlegung und Auf-
löfung, die den feilen Dingen in Berührung mit Teilen unteres Leibes
widerfährt, unmittelbar getpürt. Aber auch wenn wir Dinge als kalt
oder warm empfinden, fpüren wir die unmittelbare Berührung mit
ihnen. Der Geruch dagegen nimmt eine mittlere Stellung ein. Die
Düfte umfehweben uns, ohne daß wir unter Zufammentreffen mit
den reizenden Stoffen fpüren. Aber fobald wir die Gerüche einziehen,
einfehlürfen, verknüpft fich mit dem Riechen eine Taftempfindung:
wir fpüren den in die Nafenlöcher eintretenden Luftftrom, der die
reizenden Stoffe mit fich führt. Da wir nun bei den Wohlgerüchen
uns fehr Läufig einfehlürfend verhalten, fcheint uns auch das Riechen
überhaupt eine gewiffe fpürbare Stofflichkeit mit fich zu führen.
Zufammenfaffend alto können wir tagen: bei Gefleht und Gehör
geht das Empfinden ohne Spüren der Stofflichkeit vor fich; bei Ge-
taft, Gefchmack, Temperaturfinn dagegen ift das Empfinden ftets zu¬
gleich Stofflichkeitsgefühl; der Geruch lieht in der Mitte.
In dieter Vorzugsftellung, die dem Gefleht und Gehör durch das
Fehlen der Leiblichkeits- oder was auf dasfelbe hinausläuft: Stofflich¬
keitsempfindungen zukommt, dürfte wohl der Hauptgrund dafür liegen,
daß diefe beiden Sinne die eigentlich äfthetifchen Sinne find. Im
Sehen und Hören rücken mir die Gegenftände nicht auf den Leib,
verwickeln fich nicht mit meinen Leiblichkeitsempfindungen, geben
fich mir nicht ftofflich zu fpüren. Daher kann fich auf dem Boden
des Sehens und Hörens jene eigentümlich freie, fchwebende, begierde-
lofe Stimmung entfalten, die, wie wir weiterhin fehen werden, für das
äfthetifche Betrachten und Genießen unentbehrlich ift. Gefchmacks-,
*) Schiller, Über die äfthetifche Erziehung des Menfchen. Im 26. Brief.
Johannes Volkelt, Syftem der Äfthetik. I. Band. 7
Was hieraus
für den
äfthetifchen
Charakter
diefer beiden
Sinne folgt.