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Zweiter Abfchnitt: Befchreibende Grundlegung der Äfthetik.
Ebenfo gefleht Friedrich Vischer dem Geruch äfthetifchen Wert zu.1)
Weit entgegenkommender gegen die niederen Sinne ift Groos. Er
findet, daß auch die Empfindungen der niederen Sinne fpielend ge¬
noffen werden können, alfo äfthetifchen Wert haben. Auf der anderen
Seite aber flehe feft, daß fie an geiftigem Gehalt arm feien. Deswegen
feien fie nicht als äfthetifch im höheren Sinne zu bezeichnen.2) Wundt
widmet in feiner Pfychologie unferer Frage zutreffende, maßvoll ab¬
grenzende Erwägungen.8) Wohl am weiteften in dem Hereinziehen
der niederen Empfindungen in das Äfthetifche geht Guyau.4)
Wenn Klarheit in die Beteiligung der niederen Sinne (mit diefem
kurzen Ausdruck will ich hier der Bequemlichkeit halber Geruch, Ge-
fchmack, Temperatur- und Taftfinn und die Gemeinempfindungen zu-
fammenfaffen) an den äfthetifchen Gegenftänden kommen foil, fo muß
zuvor auf die Frage Antwort gegeben werden, auf welchen Gründen
jene äfthetifche Vorzugsftellung der Gerichts- und Gehörswahrneh¬
mungen beruht. Mit der Beantwortung diefer Frage werden zugleich
die Gefichtspunkte gewonnen fein, nach denen die gegenftändlich-
äfthetifche Bedeutung der niederen Sinne entfchieden werden muß.
Gefleht und 4. Geficht und Gehör zeichnen fich vor allen anderen Sinnen
GLe?bifch-ne dadurch aus, daß wir das Zufammentreffen der entfprechenden äußeren
keitsemp- Reize mit unferer Leiblichkeit unter regelmäßigen Bedingungen nicht
tindung. fpüren Die Welt der Geftalten und Farben fleht vor uns wie hin¬
gezaubert; der Weg, den die Lichtftrahlen durch das Auge nehmen,
und ihr Auftreffen auf der Netzhaut hebt fleh durch keinerlei Leib¬
lichkeitsempfindung hervor. Nur wenn der Lichtreiz einen ungewöhn¬
lich hohen Grad erreicht, fpüren wir das Zufammenkommen unferer
Leiblichkeit mit dem äußeren Reize: wir fühlen uns geblendet. Im
gewöhnlichen Sehen dagegen kommt nichts vor, wodurch fich uns
unfere leibliche Verwicklung mit dem herankommenden Lichte kund¬
täte. Die Bewegungsempfindungen des Auges gehören nicht hierher;
denn fie bedeuten keineswegs ein Spüren der herankommenden äußeren
Reize. Und ähnlich fchwebt das Reich der Töne an uns heran, ohne
») Friedrich Vischer, Das Schöne und die Kunft. Stuttgart 1898. S. 32 ff. —
Äfthetik, § 71.
*) Karl Groos, Der äfthetifche Genuß. Gießen 1902. S. 31 ff.
•) Wundt, Grundzüge der phyfiologifchen Pfychologie. 3. Aufl. Bd. 3. Leipzig
1903. S. 127 ff.
4) Guyau, Les problèmes d’esthétique contemporaine. Paris 1897. 4. Aufl.
S. 20 ff.