Volltext: Analyse der qualitativen Gefühle

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Der Hass als Leidenschaft. 
schwacher oder, was in unserm Falle ausschliesslich zutrifft, zu starker 
Reizung' beruht. Dieser Gedankengang erscheint zugleich geeignet, ein 
physiologisches Analogon für die in Rede stehende Gefühlsentwicklung 
oder einen Fingerzeig und Hinweis auf das physiologische Substrat der¬ 
selben darzubieten. Die nächste Folge jedes stärkeren Reizes ist Kon¬ 
gestion der Säfte nach der gereizten Stelle, zu starke Reize haben zu¬ 
nächst Stase, sodann Entzündung zur Folge, welche letztere sofort 
zu wuchernden Neubildungen, zur Bildung abnormer krankhafter Ge- 
websmassen führt, unter welchen das angegriffene Gewebe entartet und 
schliesslich zu Grunde geht. An diesen Vorgang erinnert unsre Ge¬ 
fühlsentwicklung so sehr als Psychisches an Materielles überhaupt nur 
immer erinnern kann. Man denke sich in denjenigen centralen Nerven¬ 
gebieten , in welche man die Lokalisation der höheren moralischen Ge¬ 
fühle hinein verlegt hat, durch starke Unlustaffekte eine solche ent¬ 
zündliche Reiz Wirkung gesetzt, so ist klar, dass die betreffende Nerven- 
partie einen förmlichen Herd besonders empfindlicher Reizbarkeit bilden 
muss, welcher jeden denselben im Wege auch noch so entfernter Tdeen- 
association treffenden neuen Reizanstoss mit heftigen Unlustgefühlen 
beantwortet. Das so der Entartung anheimfallende Nervengebiet ist so 
der Sitz einer neuen Gefühlsbildung geworden, welche der neuen Ge- 
websbildung des Entzündungsprocesses völlig zu entsprechen scheint. 
Der Hass ist eine Degeneration des Gefühls wie die wuchernde Neu¬ 
bildung eine solche des Gewebes ist. — Als eine Gefühlsentartung wird 
der Hass auch vom gewöhnlichen Sprachgebrauch in der Regel be¬ 
zeichnet. indem man z. B. von einem entarteten Gemüthe spricht. 
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Daher ist der Hass auch, wofern er sich nicht auf die Dauer 
eines vorübergehenden Affekts beschränkt, immer und nothwendig mehr 
oder weniger leidenschaftlich. Wie er allein nur aus starken Unlust¬ 
affekten hervorgehen kann, so muss er auch nothwendig nicht nur zur 
Vorherrschaft im Gefühlsleben sich drängen, was ja jedes Gefühl thuty 
sondern nach Art aller Leidenschaft zum alleinherrschenden Gefühl sich 
machen. In der That zeigt uns die Erfahrung auch, dass, wo der Hass 
in ein Menschenherz dauernd einkehrt, dasselbe für kein anderes wärmeres 
Gefühl Raum und Kraft behält. Zwar scheinbar, könnte man meinen, 
sollte und könnte es anders sein. Wer einen oder mehrere Menschen 
hasst, könnte ja noch Andere, z. B. Familie, Freunde lieben. Aber das 
ist nur scheinbar. So oft man einen gehässigen Menschen recht aus der 
Nähe zu beobachten Gelegenheit hat, wird man finden, dass derselbe 
keinen Menschen recht von Herzen zu lieben vermag. So stellt 
wenigstens die Dichtung derartige Verhältnisse dar. Eine Medea, die 
der Hass gegen den abtrünnigen Gatten befähigen konnte, ihre eignen 
Kinder zu tödten, konnte schon vorher ihren Vater verrathen und ihren 
kleinen Bruder in Stücke hauen. Und Shylock hat in seinem Herzeny
	        
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