Die reine Liebe.
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bekommt. Es gekört das in das interessante, bis jetzt aber
kaum in seinen allgemeinsten Umrissen bekannte Gebiet der
G e f li li 1 s y e r w a n d 1 u n g e n , mit dem wir uns weiter unten
noch näher zu beschäftigen haben werden.
Aus dem Gesagten darf nun aber keineswegs gefolgert
werden, dass der Begriff einer reinen, selbstlosen irgendwie
anders als bloss geschlechtlich oder bloss egoistisch gearteten
Liebe ganz und gar zu verwerfen sei. Es ist von Hause
aus wenig wahrscheinlich, dass eine Sache , die so allgemein
und so tief in den Sprachgebrauch, in die Denk- und An¬
schauungsweise des Volkes eingedrungen, Dasjenige, wovon
die grössten Dichter aller Zeiten und Völker mit Begeisterung
gesungen, ganz und gar nichtig sein und keine andere Existenz
als die eines Irrtliums, eines Trugbildes, eines Aberglaubens
haben solle. Man darf natürlich nicht so weit gehen, die Liebe
ganz und gar von dem Mutterboden der geschlechtlichen Sinn¬
lichkeit, aus dem sie erwachsen ist, aus dem sie fort und fort
neue Kraft empfängt, loslösen und in die luftigen Regionen
des Ideals versetzen zu wollen. Dem steht immer wieder das
Eine unwiderlegliche Argument entgegen, dass ohne geschlecht¬
liche Differenz, wie keine Ehe, so auch keine Liebe, am
Wenigsten eine dauernde möglich ist. Aber eben so verfehlt,
eben so weit von der Wahrheit abgeirrt wäre es, die Liebe
in der blossen Geschlechtsbegierde aufgehen zu lassen, ihr
innerstes Wesen durch dieselbe für erschöpft zu halten. Dem
steht die doppelte Thatsache entgegen, einmal dass die auf
blosse Sinnlichkeit basirten Leidenschaften regelmässig sich als
höchst vergänglich erweisen, sodann aber, dass wirklich oft
durch den ersten Anblick und unter Umständen, welche so¬
wohl ein sinnliches wie ein egoistisches Begehren ausschliessen,
mächtige Sympathien erweckt werden. Es sind doch nicht
ganz blosse Phantasien der Romandichter, dass in so plötz¬
licher unerwarteter Weise Liebe entstehen kann.
Diese durch den momentanen Anblick erzeugten starken Sym¬
pathien sind übrigens keineswegs bloss auf die Geschlechtsliebe be¬
schränkt, auch Freundschaft unter Personen gleichen Geschlechts, auch
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