Die verschiedenen Quellen des Mitgefühls.
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dienen für eine grosse Reihe von Verhältnissen. So fühlt
sich jeder Wohlhabende in seinem Besitz bedroht, wenn zahl¬
reiche Verbrechen gegen das Eigenthum, Diebstahl, Strassen-
raub, Brandstiftung u. s. w. bekannt werden. So empfinden
alle Fürsten die von den Unterthanen des einen unter ihnen
geübte Unbotmässigkeit u. dergl.
Das zweite Motiv des Erschreckens in dem eben be¬
trachteten Beispiel gehört nur in so fern hierher, als die Vor¬
stellung oder Besorgniss, dass das Anschreien uns selber gelte,
als unmittelbarer Ausfluss und Interpretation, bezw. Apperception
des empfangenen sinnlichen Eindrucks anzusehen ist. Es
giebt also drei verschiedene Quellen des Mitgefühls, aus
welchen sich im gegebenen Falle das bestimmte Mitgefühl in
solcher oder anderer Weise zusammensetzt. Wir können mit
einem Andern mitfühlen:
1) Per consensum, oder durch sinnliche Mitempfindung
und deren unmittelbare Folgen. Der Reiz, der das fremde
Nervensystem trifft, trifft gleichzeitig auch das unsrige.
2) Per reproductionem s. pliantasiam, d. h. indem wir
uns erinnern an ein gleichartiges oder ähnliches Leiden, bezw.
wir uns durch Vergleichung der beiderseitigen Umstände eine
Phantasievorstellung davon machen, was wir in solchem Falle
empfinden würden.
3) Per Providentiam s. per apperceptionem, d. h. indem
wir fürchten oder hoffen oder doch wenigstens für möglich
halten, dass uns ein gleiches Loos treffe.
Diese drei Quellen oder Motive des Mitgefühls sehen
nun ganz so aus, als ob sie unter einander völlig verschieden
seien. Näher betrachtet bemerkt man bald, dass sie in ein¬
ander übergehen.
Denn der Konsens ist entweder ein homologer, d. h. derselbe
Reiz trifft bei mir dieselben Organe, bezw. Nervenprovinzen, wie beim
Andern, oder ein heterol oger, er trifft andere. Der letztere Fall
ist nicht nur der häufigere, sondern eigentlich der allein hier in Betracht
kommende. Denn wenn derselbe Reiz in derselben Weise auf mich
wirkt wie auf den Andern (z. B. dieselbe Sonnengluth uns beide auf
demselben Marsche quält), dann empfinde ich mein eignes Leiden, nicht