122
Begriff des ästhetischen Gefühls.
ihres seltneren Gebrauchs und dadurch bedingter grösserer
Gefühlswärme dem Gemeingefühl näher stehen geblieben sind.
Diesem Unterschiede der höheren und niederen Empfindungs¬
formen, den ich an anderer Stelle (Grundl. eines Systems der
Aesthetik S. 170 ff.) als den der Vertretbarkeit und
Specialität bezeichnet habe, und der für die Aesthetik
ebenso wie für die theoretische Erkenntniss von hoher Wichtig¬
keit ist, wird uns weiterhin bei den höheren Gefühlskomplexen
noch öfter begegnen.
7. Aesthetische Gefühle.
Was wir unter ästhetischen Gefühlen verstehen, hat auf
S. 63 nur angedeutet werden können. Zwei Missverständnisse
sind hier abzuwehren. Nicht hierher gehören: 1) Die
Phantasie-Gefühle, d. h. diejenigen Gefühle, welche
durch eine Phantasie-Vorstellung hervorgerufen werden und
also in einer mehr oder weniger modificirten Wiederholung
irgend eines Gefühls bestehen. Wie hier der Gegensatz zum
Sinnlichen nicht dazu verleiten darf, jedes vorgestellte Gefühl
unsrer Klasse einzuverleiben, eben so wenig dürfen wir uns
durch den Namen „ästhetische Gefühle“ bestimmen
lassen, darunter alle diejenigen Gefühle, mit denen es die
Aesthetik zu tliun hat, begreifen zu wollen. Die Aesthetik
als Lehre vom Schönen in Kunst und Natur hat es nach
ihrer materiellen Seite hin mit allen Gefühlen, welche die
menschliche Brust beherbergt, zu thun. Und wTenn wir alle
diejenigen Gefühle, welche durch die Betrachtung eines Kunst¬
werks oder eines Naturanblicks in uns erweckt werden, zu
den ästhetischen rechnen wollten, so wäre das nicht anders,
als wenn wir alle vorgestellten Gefühle hierher rechneten. Je
nachdem, was das Kunstwerk darstellt, je nach dem Charakter,,
welcher in einer Landschaft sich ausprägt, erweckt das Eine
und die Andere die allerheterogensten Gefühle, Freude und
Trauer, Mitleid, Furcht, Heiterkeit, Wehmuth u. s. w. Wir
müssten zum Mindesten die ganze Materie des Dargestellten