KRITIK DER EINFÜHLUNGSTHEORIE,
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wohl auch von manchen Zustandsszenen kann dasselbe gesagt werden.
Die Porträtmalerei hat das Charakteristische zu ihrem Inhalt: sie ist
die Kunst der Charakterdarstellung; und das Charakteristische hat in der
Kunst annähernd dieselbe Bedeutung wie die Oefühlserregung und
die mit ihr zusammenhängenden Phänomene des Seelenlebens. Nun
wird man freilich erstaunt fragen, wie man denn zwischen Gefühl
und Charakter einen scharfen Unterschied machen könne; Charakter
sei doch nichts anderes als eine habituell gewordene Art zu fühlen,
eine Prädisposition zu bestimmten Gefühlen. Deshalb müsse sich der
Charakter so gut wie das eigentliche Gefühl dem Nachfühlenden er¬
schließen. Diese Annahme hat es verschuldet, daß man in der Ästhetik
nirgends einer Scheidung von Gefühl und Charakteristischem begegnet
und daß man der Frage gar nicht näher getreten ist, wie das Charak¬
teristische, das sich uns in der Erscheinung darstellt, angeeignet wird.
Nun trifft ja die erwähnte Auffassung des Charakteristischen für
bestimmte Seiten des Charakters zu. Es gibt lebensfrohe und schwer¬
mütige, bescheidene und freche, stolze und demütige, keusche und
sinnliche Naturen; gewiß sind dies bereitliegende Dispositionen zu
bestimmten Gefühlen. Aber eben damit ist auch schon ein gewisser
Unterschied vom Gefühl da: sie liegen wohl bereit, aber sie sind auch
häufig nicht in Aktion und deshalb auch in solchen Augenblicken
nicht als Gefühle vorhanden in den Persönlichkeiten, denen sie an¬
gehören. Sie sind häufig latent, und der Künstler kann sie als latent
darstellen, d. h. eben in der Form, in welcher sie nicht als Gefühle
gegenwärtig sind. Dieser Unterschied in der Beschaffenheit der beiden
seelischen Zustände bewirkt auch einen Unterschied in ihrer Aneig¬
nung. Wir wünschen doch das seelische Leben der uns gegenüber¬
tretenden Gestalten mit möglichster Schärfe zu erfassen; es wäre ver¬
kehrt, wenn wir Dispositionen zu Gefühlen für wirklich vorhandene
Gefühle nähmen. Wir nehmen deshalb charakteristische Eigenschaften
wohl wahr, aber wir fühlen die ihnen zugrunde liegenden Gefühle, so¬
lange diese nicht in Aktion sind, nicht in die Träger der charakte¬
ristischen Eigenschaften ein; wir legen sie ihnen nicht bei in der Form
von Gefühlen; es fällt uns gar nicht ein zu meinen, diese Frau, um
deren schönen Mund ein leichter Zug von Sinnlichkeit spielt, sei
augenblicklich von sinnlichen Gefühlen bewegt und wir müßten des¬
halb etwas wie sinnliches Begehren in sie hineinfühlen. Im Augen¬
blick, da wir sie sehen oder in dem sie der Porträtmaler festgehalten
hat, ist sie in vollständiger seelischer Ruhe, und wir würden ihren
Gemütszustand falsch deuten, wenn wir die sinnliche Erregung, die
nach der gangbaren Einfühlungstheorie der sinnliche Zug in ihrem
Gesicht in uns hervorruft, in sie hinüberfühlen würden.