KRITIK DER EINFÜHLUNGSTHEORIE.
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zu einem neuen einheitlichen Gefühl verschmelzen, weil sonst die
Klarheit beeinträchtigt wäre, mit der wir das Seelenleben der uns
gegenüberstehenden Gestalten zu deuten suchen. Wie könnten wir
den Jubel des tragischen Helden über die vermeintliche Lösung des
Konflikts in einem Ernstgefühl miterleben zu gleicher Zeit, da wir
hellsichtiger als er das Verhängnis in banger Sorge über ihn herein¬
brechen sehen? Können wir mehr als Onkel Bräsigs Zärtlichkeit für
Frau Nüßler wahrnehmen, wenn wir zugleich über sie in vergnügtes
Lachen ausbrechen. Das Drama erregt die Anteilsgefühle in besonderer
Stärke; ich kann deshalb auch, wenn ich von meiner persönlichen
Erfahrung reden darf, einen ganzen Abend im Theater sitzen, ich kann
vollständig ergriffen und hingerissen sein von dem vorgeführten Drama,
ja, diese Ergriffenheit kann auf meinen Körper übergegriffen haben;
an Stellen von erregter Spannung mag ich den vorher an die Lehne
des Sitzes gedrückten Leib unwillkürlich aufgerichtet und vorwärts
geschoben haben, bei der Erwartung des Schrecklichen mag der Atem
gestockt haben, beim Eintreten des rettenden Umstands mag ich be¬
ruhigt aufgeatmet haben, trotzdem bemerke ich am Schluß des Stücks
zu meinem Erstaunen, daß ich die Gefühlszustände der handelnden
Personen kaum einmal mitgefühlt habe. Ich habe Gretchens Liebe,
ihre Angst um den Verlust des guten Namens, ihr Entsetzen vor dem
Tod durch Henkershand wohl aufs lebhafteste wahrgenommen, aber
ich habe diese Zustände nicht in Ernstgefühlen mitgefühlt. Gewiß
bin ich bei Gretchens Anblick nicht fühllos geblieben: sie hat mich
entzückt, sie hat mein tiefstes Mitleid erregt, an ihrem Leiden ist das
Weh alles Menschenseins über mich gekommen; aber das sind Anteils¬
gefühle gewesen, keine Gegenstandsgefühle, und gerade diese haben
sich nirgends eingestellt. Und das ist nicht zu verwundern; denn
kräftige Reaktionsgefühle nehmen den Gegenstandsgefühlen den Platz
weg. Und natürlich ist diese Erscheinung nicht allein auf das Drama
beschränkt. Wem erwärmte die Hausmütterlichkeit Lottens in der be¬
kannten Wertherszene oder die Mutterfreude der Madonna auf den
Gemälden der alten Meister nicht das Herz? Aber eben weil wir das
Herzerquickende dieser Gefühlszustände so tief fühlen, fehlt der Raum,
auch noch diese Gefühlszustände in einem davon verschiedenen Ge¬
fühl selbst zu fühlen. Ich wüßte nicht, daß mich Lotte je zur Haus¬
mütterlichkeit oder die Madonna zur Mutterfreude gestimmt hätte.
Es kann also keine Rede davon sein, daß das Ideal der Deutung
des Seelischen am Kunstwerk das Mit- und Einfühlen wäre; im Gegen¬
teil: ein solches Verhalten ist vielfach durch die Beschaffenheit des
Kunstwerks ausgeschlossen, nicht bloß beim Häßlichen, mit dem wir
nicht sympathisieren können, sondern auch beim Zusammen ver-