KRITIK DER EINFÜHLUNGSTIIEORIE.
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logischen Erfahrung ausfechten zu wollen. Versichert der Gegner der
vollen Einfühlung, er bemerke an sich für gewöhnlich nichts als leb¬
hafte Vorstellungen der Gefühle, so erwidert der Vertreter der Ein¬
fühlungstheorie: dafür bist du aber auch ästhetisch nicht ganz voll;
beteuert dieser umgekehrt, er nehme an sich mit aller Bestimmtheit
beim Einleben Ernstgefühle wahr, so erwidert jener: das ist bei be¬
sonders erregungsfähigen Naturen nicht verwunderlich, aber es ist
eine Anmaßung, wenn der Nervenmensch ruhigeren Geistern die Be¬
fähigung zum ästhetischen Genuß abspricht. Der Streit kann nur
entschieden werden am Bestand der Kunstwerke selber: sie müssen
daraufhin betrachtet werden, ob sie durchgängig so beschaffen sind,
daß sie die volle Einfühlung jederzeit ermöglichen, oder ob es Fälle
gibt, in denen sie unmöglich ist, und diese Betrachtung wird sich zu
der Untersuchung erweitern, ob denn überhaupt die Einfühlungstheorie
leistet, was sie zu leisten beansprucht, ob sie im ganzen Umfang er¬
klärt, wie wir dazu kommen, in dem uns gegebenen Äußeren ein
Inneres wahrzunehmen und das an sich leb- und seellose Kunstwerk
mit Leben und Seele zu füllen.
Fragt man also- nach der Möglichkeit der vollen Einfühlung dem
Kunstwerk gegenüber, so ist sofort so viel klar: diese ist nur bei
einfachen Motiven vollständig durchführbar. Bei der polyphonen Be¬
handlung des Kunstwerks ist sie fast immer ausgeschlossen. Man
kann disparate Gefühle wohl zu gleicher Zeit wahrnehmen, es ist aber
unmöglich, sie zugleich in einem Akt in Ernstgefühlen zu erleben.
Die Schwierigkeit für die Einfühlungstheorie beginnt schon bei figuren¬
reichen Gemälden. Wohl kann man eine Figur nach der anderen be¬
trachten und den Gemütszustand einer jeden in sich selber aufleben
lassen. Aber von der Betrachtung des einzelnen muß man notwendig
zum Überblick über das Ganze gelangen. Wie nun, wenn die seeli¬
schen Zustände der einzelnen Figuren nicht zu einer Stimmungseinheit
Zusammengehen? Auf Leonardos Abendmahl stehen sich drei bis
vier Gefühlstypen gegenüber: in Christus die himmlische Gelassenheit
und wehmütige Ergebung ins Unabänderliche, in Judas Verlegenheit
und dämonische Entschlossenheit, in den übrigen Jüngern Empörung
über den Verrat oder der Ausdruck unbedingter Hingabe. Mögen wir
beim zusammenfassenden Überblick die einzelnen Jünger noch so
verschwommen wahrnehmen, zweierlei muß uns zum allermindesten
gegenwärtig sein, die Ergebung Christi in das, was geschieht, und die
Empörung der Jünger darüber: aber wie vermöchten wir das, wenn
Ernstgefühle die Bedingung jedes lebendigen Kunstauffassens sind?
Man kann doch nicht zwei entgegengesetzte Gefühle zu gleicher Zeit
in sich tragen, dazu noch mit dem Bewußtsein, daß sie in ver-