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THEODOR A. MEYER.
feierlicher Erhabenheit oder tiefem Schmerz zuströmt. Die ästhetische
Freude, die man an einer Tragödie erlebt, hat einen Zusatz von
schmerzvoller Gehobenheit oder von hochgestimmter Rührung, der
Humor schwingt sich über die Ungereimtheiten des Lebens unter be¬
freiendem oder gerührtem Lächeln empor, die Idylle strömt sanften
Frieden und behagliches Seinsgefühl aus. Am Melancholischen blüht
die Freude am Schönen auf schmerzlichem Untergrund auf. Am
Lustigen wird sie lustig und leichtbeschwingt. Es ist unmöglich, der
Fülle der möglichen Nuancen dieser Lust in Worten gerecht zu werden.
Wie die ästhetische Freude am Schönen eine reale Lust ist, so sind
es naturgemäß auch diese Begleitgefühle, wenn sie auch gemäß ihrer
Entstehung an einem scheinhaften Gebilde der modifikatorischen Kraft
entbehren. Sie stellen sich auch schon beim einzelnen Zug ein, so¬
weit wir ihn für sich ästhetisch werten — wie oben gesagt, wirken
viele Einzelzüge ästhetisch nicht für sich, sondern nur im Zusammen¬
hang mit einer Gruppe von anderen; aber naturgemäß werden die
Begleitgefühle sich am einzelnen für sich ästhetisch wirksamen Zug
gewöhnlich nur ganz schwach, ja häufig fast unmerklich regen; zu
größerer Stärke wachsen sie in der Regel nur gegenüber den Gesamt¬
eindrücken an, die von einzelnen kräftigeren Gliedern oder vom Ganzen
ausgehen. Wie stark sie werden können, zeigen die Tränen, die der
Gerührte vergießt, das schallende Gelächter, in das der Erheiterte aus¬
bricht, und die machtvolle Gehobenheit und Erschütterung, in der die
Tragödie endet.
Doch würde man irren, wenn man glauben würde, dieser Ein¬
schlag der die ästhetische Lust modifizierenden Gefühle stamme aus¬
nahmslos aus dem Mitfühlen. Im Gegenteil ist er häufig rein reaktiven
Ursprungs. Das geschilderte Gefühlsleben steht vielfach in Zusammen¬
hängen, die reaktive Gefühle im Beschauer auslösen, durch die, wie
wir sahen, den sympathischen Gefühlen der Raum entzogen wird, und
die Nuance der ästhetischen Freude, die an einem nicht gefühlsmäßigen
Gehalt entsteht, kann ohnedem immer nur reaktiven Charakter tragen.
Wohl setzt uns bisweilen einmal ein selbst Gerührter in Rührung,
aber viel häufiger ist die Gestalt, die unsere Rührung erregt, selbst
ohne jede Rührung; der Komische, der unsere Lustigkeit und unser
Lachen hervorlockt, ist meist selbst ohne Lustigkeit und Lachen. Der
Erhabene staunt für gewöhnlich nicht über seine Erhabenheit. Und
wie oft sind Rührung, lustiges Lachen und Staunen Begleitgefühle der
Freude am Schönen? Aber auch wo wir ganz wohl auf dem Weg
des Mit- und Nachfühlens zu solchen Begleitgefühlen gelangt sein
könnten, geschieht es häufig nicht so, sondern auch da können die
Nuancierungsgefühle deutlich als Reaktionsgefühle gekennzeichnet sein.