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THEODOR A. MEYER.
Das tritt vollends deutlich zutage, wo die dauernde, aber augen¬
blicklich latente Charaktereigentümlichkeit einer Gestalt in einem ge¬
wissen Gegensatz steht zu einer Gefühlserregung, die sie vorüber¬
gehend ergreift. Das Leben und die Kunst zeigen uns eine Frau, in
deren Zügen sich unverkennbar Sinnlichkeit ausprägt, auch wohl ein¬
mal von Angst, von Furcht, von Entsetzen gepackt. Ich erinnere an
gewisse Frauengestalten von Correggio. In solcher Lage ist es ganz
ausgeschlossen, daß der sinnliche Charakterzug aktiv werde in einem
sinnlichen Gefühl; es liegt uns deshalb auch ganz fern, sinnliche Er¬
regung in sie hineinzufühlen. Lipps sagt gelegentlich einmal (Ästhetik I,
150 und ähnlich I, 140 und 141), »es sei ganz gleichgültig, ob der
Träger der Formen selbst etwas von den Gefühlen fühlt, die wir in
ihn hineinlegen«. Dieser Satz ist zweifellos richtig, solange wir in
der Täuschung befangen sind,~als sei die betreffende Gestalt oder Er¬
scheinung von einem Gefühl erfüllt, das ihr in Wirklichkeit nicht zu¬
kommt; die Stimmungslandschaft ist ein Stück fühlloser Natur; aber
im naiven Akt der ästhetischen Beschauung sind wir überzeugt, daß
in ihr ein Seelisches geheimnisvoll webt, und deshalb legen wir un¬
befangen eine Stimmung in sie hinein. Beim Charakteristischen des
menschlichen Seelenlebens dürfen wir uns dieser Täuschung nicht
hingeben, sie würde zu beständigem Irrtum, zu fortgesetzt falscher
Deutung des Seelenlebens führen. In Wirklichkeit besteht diese Ge¬
fahr auch nicht einmal: ich finde, daß wir in der intuitiven Auf¬
fassung des Seelenlebens das Charakteristische und die Gefühlserregung
vortrefflich auseinanderzuhalten wissen. Lipps macht die angeführte
Bemerkung anläßlich der schönen Formen dès weiblichen Körpers; er
sagt (Ästhetik I, 149): »ich fühle in den schönen weiblichen Formen
ein eigenartig kraftvolles, gesundes, schwellendes, blühendes Leben: ich
habe ein körperliches Wohlgefühl, das nirgends anders als in den
wahrgenommenen Formen lokalisiert ist — ich finde mich in der
ästhetischen Betrachtung solcher Formen durch die Form hindurch¬
sehend und auf ein eigentümliches Leben hinsehend und finde daraus
ein Glücksgefühl mir erwachsend, das ich sonst nicht kenne.« Gewiß
ist es möglich, körperliches Wohlgefühl in die Formen einer Frau
hineinzufühlen, solange der seelische Zustand der Frau ein körper¬
liches Wohlgefühl nicht ausschließt. Wie aber, wenn diese Frau in
einem Gefühlszustand erscheint, der jegliches körperliche Wohlgefühl
unmöglich macht? Eine Magdalena von blühenden üppigen Formen
liege am Boden, mit allen Zeichen der Zerknirschung in die Leidens¬
gestalt des Gekreuzigten vertieft; eine Frauengestalt von herrlichster
Körperbeschaffenheit weile mit träumenden Blicken in der Ferne oder
senke in schwerer Melancholie das Haupt; dann ist es vollständig