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Theodor Lipps.
stimmten Gegenstandes schon der Analogie wegen zuerkannt
werden müsse.
Von einer bloßen Tendenz rede ich hier. Und aus selbst¬
verständlichen Gründen. Wie einer bestimmten, so eignet ja
eine solche Tendenz auch jeder anderen Auffassungstätigkeit.
Es sind also immer viele solche Tendenzen in uns, und diese
hindern sich wechselseitig in ihrer Verwirklichung. Ja noch
mehr: Allgemeine seelische Zuständlichkeiten der hier in Rede
stehenden Art, Stimmungen, können, wie niemandem unbekannt
ist, auch Nachwirkungen sein dessen, was in der Vergangen¬
heit von mir erfahren wurde oder auch nur meiner Erinnerung
oder Phantasie sich aufdrängte. Es hat also auch Vergangenes,
auch wenn dies selbst aus meinem Bewußtsein jetzt entschwunden
ist, es hat also auch meine ehemalige Auffassungstätigkeit die
„Tendenz“ in solchen allgemeinen Zuständlichkeiten oder
Stimmungen nachzudauern. Wie weit also die an eine be¬
stimmte Auffassungstätigkeit gebundene Tendenz der Aus¬
breitung ihres Rhythmus sich verwirklichen, also diese Auf¬
fassungstätigkeit die ihr zugehörige Atmosphäre zur allgemeinen
machen kann, dies hängt danach notwendig davon ab, wie weit
diese Tendenz in der Konkurrenz gleichartiger Tendenzen der
einen und der anderen Art zum Sieg gelangt und in mir
herrschend wird.
Und dazu kommt, daß ich ja apriori nichts weiß von dem
Grade, in dem eine bestimmte Auffassungstätigkeit oder Gattung
von solchen, etwa die Farbenempfindung oder die Tonvorstellung,
oder andererseits die Geschmacksempfindung oder die kinästhe-
tische Empfindung, eine ausgeprägte Eigenart oder einen be¬
sonderen Rhythmus, also ein Vermögen der Ausbreitung einer
solchen Eigenart oder eines solchen Rhythmus besitzt.
Nur wie es erfahrungsgemäß ist, wissen wir. Dies nehmen
wir hier hin ohne es erklären zu wollen. Die Erfahrung aber
scheint zu zeigen, daß unser Bewußtsein von Farben und Tönen
und Raumgestalten in diesem Punkte bevorzugt ist oder mehr
psychische „Weite“ oder „Breite“ oder „Tiefe“ besitzt als die
kinästhetische Empfindung, der man soviel zutraut und die so
wenig leistet. Es gibt ja auch auf dem Gebiet der Töne die