Zur Einfühlung. XII. Die geometrisch-optischen Täuschungen.
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wenn einheitliche Linien, wenn also Linien, die im ganzen eine
und dieselbe sind, einander bald sich nähern, dann wiederum
die Annäherung stetig in eine Entfernung übergeht.
Die Einheitlichkeit der Linien, die einander sich nähern und
voneinander sich entfernen, ist also die Voraussetzung für die
hier in Rede stehende optische Täuschung.
Indem die beiden Linien etwa einander sich nähern, voll¬
zieht sich in ihnen die Tendenz der Annäherung; später aber
bleibt der Vollzug oder die Verwirklichung dieser Tendenz
nicht bestehen, sondern an ihre Stelle tritt die Tätigkeit der
Entfernung voneinander. Aber es bleibt in den Linien überall
das, was bleiben kann, wenn wir von der Verwirklichung jener
Tendenz absehen, also die Tendenz der Annäherung* aneinander
selbst. Und diese kann auch als eine Gegentendenz zu der
Tätigkeit der Entfernung bezeichnet werden. Und aus ihr ergibt
sich nun, daß die Ausdehnungstätigkeit, welche die Linie übt,
überhaupt und insbesondere an der nachfolgenden Stelle kleiner
erscheint; und entsprechend erscheint auch die Entfernung der
Linien voneinander geringer. * Ebenso scheint aus gleichem
Grunde jede Annäherung um der nachfolgenden oder voran¬
gehenden Entfernung willen geringer.
Hier nun scheinen wir uns mit früher Gesagtem in direkten
Widerspruch zu setzen. Die Gegentendenz ließ ja bisher die
Tätigkeit, deren Gegentendenz sie war, größer erscheinen. Und
nun macht sie dieselbe für unsern Eindruck geringer. Damit
aber sind wir eben bei der Hauptsache angelangt. In der Tat be¬
steht der Widerspruch unter der Voraussetzung, daß eine Doppel¬
deutigkeit im Worte „Gegentendenz“ nicht beachtet wird, daß
man insbesondere übersieht, in welchem Sinne bis jetzt die
Gegentendenz genommen war. Eine solche Doppeldeutigkeit
besteht ja. Unter der Gegentendenz kann einmal verstanden
werden die Tendenz gegen eine Tätigkeit, oder genauer die
Tendenz gegen ihre Verwirklichung, gegen die Erreichung
ihres Zieles. Daß aber dies Ziel erreicht werde, liegt im Sinne
des Wortes Tätigkeit. Die Gegentendenz, von der bisher die
Rede war, ist, wie ich ausdrücklich sagte, die von der Tätig¬
keit zu überwindende und überwundene. Es ist diejenige Ten-
Lipps, Psychol. Untersuch. H. 26