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Theodor Lipps.
daß mein Gegner den Eindruck habe, die Tiefe zu sehen, denn
diesen Eindruck habe ich nicht minder und hat jedermann ; nur
fuge ich hinzu, daß dieser Eindruck dann der Wahrheit nicht
entspricht, wenn unter dem Sehen das Haben eines Gesichts¬
bildes verstanden wird.
Und so tritt uns der Eindruck des Sehens, das in Wahrheit
nicht das Haben eines Bildes, sondern das Denken eines so
oder so beschaffenen Gegenstandes in demselben ist, in ver¬
schiedener Gestalt entgegen. In vielen Fällen sagen wir nicht,
wir sehen oder hören etwas, sondern wir sehen oder hören es
einem Gesehenen oder Gehörten an. Ich sage etwa, daß ich
den Worten eines Menschen, die ich höre, die freundliche Ge¬
sinnung anhöre; ich höre „freundliche Worte“. Die gehörten
Worte „klingen“ freundlich, als ob Freundlichkeit der Gesinnung
eine mögliche Art des Klanges von Werten wäre.
Diese Art der sinnlichen Wahrnehmung des sinnlich nicht
Wahrnehmbaren kommt auch bei allen Täuschungen des Augen¬
maßes in Frage, den auf Erfahrung beruhenden, wie den durch
Einfühlung zustande kommenden, die man um ihrer besonderen
Eigenart willen speziell als die geometrisch-optischen Täuschungen
zu bezeichnen pflegt. Ich habe etwa den Eindruck, als ob der
Mond im Horizont von mir größer gesehen werde, als derselbe
Mond im Zenith. In der Tat sehe ich den Mond beidemal in
gleicher Größe, d. h. ich habe in den beiden Fällen dasselbe Ge¬
sichtsbild. Gewisse Erfahrungen aber sagen mir, wenn ich den
Mond im Horizont sehe, daß der in dem Gesichtsbild gedachte
Gegenstand, der Mond „selbst“, eine gewisse Größe habe; während
diese Erfahrungen zurücktreten, wenn ich ihn im Zenith sehe.
Mit anderen Worten, ich habe in jenem Falle auf Grund von
Erfahrungen den Eindruck einer bestimmten Größe, während
in diesem Falle, wo mir die Hilfe dieser Erfahrungen fehlt, ich
einen gleichen Größeneindruck nicht haben kann. Wieder aber
wird, wenn ich mir dieses Tatbestandes nicht bewußt bin, der
verschiedene Größeneindruck zu einem Urteil über die ver¬
schiedene Größe der Gesichtsbilder.
Dies ist ein Fall einer empirischen Größentäuschung. Die
geometrisch-optischen Täuschungen sind, wie gesagt, nicht durch