Volltext: Zur Einfühlung

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Theodor Lipps. 
Ganzen ein Sehen dieses Ganzen, so ist dies zwar unpsycho¬ 
logisch gedacht, aber es ist eine einfache und übliche Wendung. 
Was ich hier sage, scheint aber doppelt sonderbar, wenn wir 
bedenken, daß alle Dinge des gewöhnlichen Lebens solche sach¬ 
liche Ganze zu sein pflegen. Sie aile sind danach von uns 
nicht einfach sinnlich wahrgenommen, noch sonstwie von uns 
vorgefunden, sondern aus einem Vorgefundenen Material von 
uns gemacht. Dies kann doch nur den verwundern, der ver¬ 
gißt, daß wir es sind, die das Weltbild aufbauen und daß dazu 
jederzeit zwei gehören: ein Material, aus dem wir es auf¬ 
bauen können, und wir. 
Das Aufbauen des Weltbildes geschieht durch ein Lesen 
im Buche der Wirklichkeit. Aber dies Lesen ist, wie überall, 
nicht ein bloßes Uineinstarren in das Buch, noch auch ein 
bloßes Auffassen der darin gedruckten und enger zusammen¬ 
stehenden oder durch weitere Abstände getrennten Vokale und 
Konsonanten, sondern es ist ein Zusammennehmen derselben 
zu Worten und Sätzen. Auch diese Worte und Sätze sind 
aber sachliche Ganze und sicher nicht der bedeutungslosesten 
Art. Und auch sie bedürfen demnach, damit sie für mich be¬ 
stehen, meines Tuns. Eben das Wort „Lesen“ bezeichnet 
dieses Tun. Angenommen, die Weltdichtung bestände nur aus 
Worten oder Sätzen ohne Sinn, so wäre ihr gegenüber doch 
auch ich Dichter, nur nach Anweisung des Weltdichters. Wie¬ 
viel mehr, wenn sie einen Sinn hat und ich mir einen Vers 
darauf zu machen suche? 
Noch eines sei zu dem, was hier in Rede steht, bemerkt. 
Man meine doch nicht dem Gesagten mit dem Einwand zu 
begegnen, daß uns gar oft ein sachliches Ganzes mit einem 
Schlage entgegentrete. In solchen Fällen wüßten wir nichts 
davon, daß uns erst ein Material gegeben sei und dann unser 
zusammenfassendes Tun als etwas völlig anderes sich dazu 
g*eselle und sukzessive ein Stück des Materials zum andern 
hinzunehmend, in meßbarer Zeit das Ganze entstehen lasse. 
In der Tat wird oft genug, wenn ein sachliches Ganze für mich 
da ist, von einer solchen Weise seines Entstehens nichts zu 
bemerken sein. Aber warum sollte auch dergleichen stattfinden?
	        
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