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Theodor Lipps.
freilich auch ein Stetiges. Im übrigen aber ist dies Bewußtseins¬
erlebnis nur eben dies eigentümliche Bewußtseinserlebnis und
mit irgendwelchen Bestimmtheiten von Linien so wenig ver-
gleichlich, wie etwa meine Hoffnung mit Blau oder Süß ver-
gleichlich ist.
Wenn dem aber so ist, wie komme ich dann dazu, die beiden,
jene gesehene Bestimmtheit der Linie und des Räumlichen
überhaupt einerseits und die in mir erlebte Bestimmtheit meiner
andererseits, dennoch mit dem gleichen Namen Übergang zu
benennen? Hierauf ist, soviel ich sehe, die Antwort einfach.
Jenes Sehen ist, wie wir wissen, ein Sehen von eigener Art.
Freilich ist es ein Sehen, aber ein solches, das nicht geschehen
kann, ohne daß zugleich ein Bewußtseinserlebnis, nämlich ein
von mir vollbrachtes Zusammennehmen zu einem Ganzen und ein
Beziehen, kurz, ein von mir vollbrachtes und nur in mir erleb¬
bares Tun in mir stattfande und von mir erlebt wird. Es ist
ein Sehen, bei dem das Gesehene von mir nicht aufgefaßt
werden kann, ohne jenes Tun, ein Sehen also, das dies Tun in
sich schließt.
Es ist aber eine allgemeine, obzwar recht oft verkannte psycho¬
logische Tatsache, daß wir überall da, wo in solcher Weise in
einem Akt des sinnlichen Empfindens ein Bewußtseinseriebnis
oder eine nur erleb bare Bestimmtheit meiner steckt, zur Be¬
zeichnung einerseits des Gegenstandes der Empfindung anderer¬
seits der nur in mir erleb baren Bestimmtheit meiner uns mit
einem einzigen Namen zu behelfen pflegen. So nennen wir auch
eine gewisse Art von Gegenständen der kinästhetischen Emp¬
findung, nämlich den eigentümlichen und nicht näher beschreib¬
baren Muskeldruck, den wir empfinden, wenn die Glieder
unseres Körpers sich bewegen, mit dem Namen „Spannung“,
aus keinem anderen Grunde, als weil wir in solchen Bewegungen
uns als die Bewegenden zu erleben pflegen und weil wir immer,
wenn wir solchergestalt uns als tätig erleben oder wie wir auch
sagen, uns tätig fühlen, in der Tätigkeit das sie auszeichnende
Moment der Spannung miterleben. Wir nennen demgemäß
auch jene Art der kinästhetischen Empfindung Spannungs¬
empfindung. Umgekehrt nennen wir Schmerz nicht nur das*