Viertes Kapitel. Anwendung der raumpsychologischen Untersuchung usw. 451
„der Flächeneinheit der Buchstaben. Anderseits verglich ich
„einige Male die Intensität der Beleuchtung meines Arbeits¬
tisches am frühen Morgen, wenn dieselbe zum ganz bequemen
„Lesen eben zureichend war, mit der Beleuchtung desselben
„Tisches am Mittag eines hellen Tages bei weifswolkigem Himmel
„und fand das Verhältnis beiläufig 1:50. Somit waren bei der
„Mittagsbeleuchtung die schwarzen Buchstaben etwa dreimal
„heller als bei der Morgenbeleuchtung das weifse Papier, und
„die Lichtstärke des letzteren betrug des Morgens etwa 1/8 der
„Lichtstärke, welche die Buchstaben des Mittags hatten. Trotz
„alledem aber erschienen bei der einen und bei der anderen Be¬
feuchtung die Buchstaben schwarz und das Papier weifs. Wäre
„die Farbe oder wie man hier auch sagen kann, die Helligkeit
„des Papiers und die Dunkelheit der Buchstaben nicht innerhalb
„weiter Grenzen unabhängig von der Stärke der Beleuchtung, so
„hätten mir dieselben Buchstaben, welche ich des Morgens
„schwarz sah, des Mittags weifs und sogar noch viel heller er¬
scheinen müssen als des Morgens das weifse Papier, oder es
„hätte mir umgekehrt das ,weifse1 Papier des Morgens tiefer
„schwarz erscheinen müssen als des Mittags die Buchstaben.“
Durch einen schönen Versuch zeigt Heeing dann weiter, dafs
für unser Auge ein bei Tagesbeleuchtung blau erscheinendes
Papier auch bei Gasbeleuchtung ,blau£ bleiben kann, obwohl es
jetzt ein Strahlengemisch zurück wirft, welches wir bei Tage auch
nicht entfernt blau, sondern vielmehr braun sehen. Heeing
führt diese annähernd verwirklichte Farbenkonstanz der Sehdinge
auf das Zusammenwirken mehrerer, im einzelnen genauer angeb-
barer Regulierungsvorrichtungen oder Selbststeuer¬
ungen des äufseren und inneren Auges zurück.1
Gesetzt auch den Fall, dafs manches an den sinnespsycho¬
logischen Aufstellungen Ewald Heeings im einzelnen der Korrek¬
tur bedürfen mag, es ist trotzdem für jeden, der sich in das Werk
dieses Forschers einzuleben versucht hat, gewifs, dafs diesem Werk
ein bleibender und als wahrhaft philosophisch zu bezeichnender Ge¬
danke zugrunde liegt. Erblickt Otto Liebmann den Kerngedanken
der von Kant begründeten Umwälzung unserer philosophischen
1 Im weitesten Sinne, d. h. unter Einrechnung der nervösen Funk¬
tionen, die dem Sehakt dienen.
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