Erstes Kapitel. Neue Untersuchungen über das Kostersche Phänomen. 413
§ 5.
Von mehreren Autoren — Spencer, Rood und Helmholtz —
ist die Beobachtung gemacht worden, dafs die Farben einer
Landschaft bei umgekehrter oder schiefer Lage des Kopfes
„glänzender“, „leuchtender“, „bestimmter“ erscheinen als bei
gewöhnlicher Kopfhaltung.
Spencer1 gab für die Erscheinung folgende Erklärung:
Wenn wir die Dinge der Aufsenwelt in der gewöhnlichen Weise
betrachten, tauchen im Bewufstsein allerlei Ideenassoziationen
auf, welche sich an das Gesehene anknüpfen. Wir sind also
genötigt, unsere Aufmerksamkeit gleichzeitig Vorstellungen und
Empfindungen zuzuwenden, und infolgedessen verlieren die
Empfindungen an Lebhaftigkeit. Bei ungewöhnlicher Kopf¬
haltung ist das Bewufstsein in geringerem Mafse mit den Vor¬
stellungen beschäftigt ; die Aufmerksamkeit kann sich ungeteilter
den Empfindungen zuwenden.
Gegen diese Interpretation ist Verschiedenes einzuwenden.
Erstens ist es m. E. durch nichts erwiesen, dafs bei der Be¬
trachtung der Aufsenwelt mit schiefer oder umgekehrter Kopf¬
haltung weniger zahlreiche Vorstellungen in uns auftauchen als
bei Beobachtung unter normaler Kopfhaltung. Betrachte ich
irgend einen Gegenstand mit schiefer oder umgekehrter Kopf¬
haltung, so sieht derselbe im wesentlichen ganz unverändert aus,
und es ist von vornherein gar nicht einzusehen, weshalb sich an
die Betrachtung des Gegenstandes unter diesen Umständen nicht
dieselben „Erkennungsakte“ und Ideenverbindungen anschliefsen
sollten als dann, wenn der Gegenstand in normaler Weise be¬
trachtet wird. Allerdings finden bei Umkehr der Kopfhaltung
gewisse Veränderungen im Wahrnehmungsbilde statt. Aber
einmal bedarf es schon einer gewissen Schulung im Beobachten,
um diese Veränderungen wahrzunehmen, und ferner treten die¬
selben Veränderungen — es sind nämlich Veränderungen in der
Tiefe des Reliefs — auch bei gewöhnlicher Kopfhaltung auf,
wenn wir denselben Gegenstand aus verschiedener Entfernung
betrachten. Die Veränderungen, welche im Wahrnehmungsbilde
auftreten, dürften also schwerlich als solche anzusehen sein, die
das Auftreten der mit dem Vorstellungsbilde des betrachteten
Gegenstandes assoziierten Vorstellungen hintanhalten.
1 System der synthetischen Philosophie 5, 2. Stuttgart 1886. S. 250.