Sechstes Kapitel. Zur Phänomenologie des leeren Raumes usw. 245
eine „neue Art zu sehen“ entdeckt, und diese Art des Sehens sei
in der Malerei der Gegenwart zur Herrschaft gelangt. Wenn
man etwas Derartiges liest, so hat man zunächst den Eindruck,
dafs hier wohl lediglich eine rednerische Floskel vorliegt. Wenn
jene Kunstschriftsteller von der Entdeckung einer „neuen Art
des Sehens“ reden, so meinen sie offenbar gar nichts anderes
als dies : die Impressionisten haben eine neue Art zu malen, eine
von der bisherigen abweichende Maltechnik entdeckt. Jene Kunst¬
schriftsteller gestatten sich eben eine Art poetischer Lizenz, indem
sie „sehen“ anstatt „malen“ sagen; denn wie ist es möglich, im
eigentlichen, nicht übertragenen Sinne, eine neue Art des Sehens
zu entdecken? Welche Gesichtsempfindungen und Gesichtswahr¬
nehmungen auf einen bestimmten äufseren Reiz hin auftreten,
das ist doch offenbar unserer Willkür gänzlich entzogen, das
hängt doch lediglich ab von unserer Organisation, die uns von
der Natur mitgegeben ist.
Allerdings könnte jemand auf den Gedanken kommen, die
Entwicklungslehre heranzuziehen und darauf hinzuweisen, dafs
alles organische Leben der Entwicklung unterworfen ist, somit
auch der Gesichtssinn. Hat der Sehprozefs eine neue Ent¬
wicklungsstufe erreicht, so wird das auch in der Kunst zum Aus¬
druck kommen; es scheint darum nicht ganz unmöglich, dafs
Umwälzungen in der Kunst mit Umwälzungen im Sehprozefs
Zusammenhängen und auf solche zurückzuführen sind. Der
Kunsthistoriker Richard Muther scheint dieser Meinung tat¬
sächlich zuzuneigen; denn er äufsert bei der Besprechung des
Impressionismus die Ansicht, dafs das Auge des Menschen von
heute Dinge sieht, die unsere Väter noch nicht bemerkten, und
er sucht diese Ansicht zu stützen, indem er sich auf die Arbeiten
von Hugo Magnus beruft. Dieser Forscher habe dargetan, dafs
sich der Farbensinn erst in historischer Zeit entwickelt hat.
Nach der Lehre von Magnus war der Mensch noch vor einigen
tausend Jahren farbenblind, so dafs die Natur damals noch all¬
gemein wie eine schwarz-weifse Zeichnung gesehen wurde; erst
im Laufe der geschichtlichen Zeit, d. h. erst innerhalb der letzten
Jahrtausende, seien die Empfindungen der bunten Farben —-
und zwar ganz allmählich, eine Farbe nach der anderen — hin¬
zugekommen.
Der Entwicklungsvorgang, welchen Magnus annimmt, ist*
falls er sich überhaupt in dieser Weise zugetragen hat, sicher