242 Erster Abschnitt. Uber das Wesen der Tiefenwahrnehmung.
richtig zu lokalisieren gelernt hat, anders verhält als der Normale.
Dagegen werden diejenigen Gegenstände, welche noch ferner
sind als jene ausdrücklich beachteten relativ fernen Objekte,
gleichzeitig mit den letzteren von der Aufmerksamkeit erfafst;
denn wir haben ja bei der Analyse des PANUMschen Phänomens
gesehen, dafs bei der Fixation und Beachtung eines Punktes
zwar nicht das vor demselben Gelegene, wohl aber das hinter
ihm Gelegene mitbeachtet wird. Da nun für jene fernsten Ob¬
jekte keine besonderen Lokalisationsmotive vorliegen, so wird
ihre scheinbare Tiefenentfernung durch das Prinzip der Auf¬
merksamkeitslokalisation bestimmt, d.h. diejenigen Objekte, welche
noch ferner sind als die fernsten besonders und ausdrücklich
beachteten Gegenstände, erscheinen in derselben Entfernung wie
die letzteren. Da sich mit fortschreitender Übung der Bereich
der besonders und ausdrücklich beachteten Objekte vom Patienten
aus in radialer Richtung immer weiter ausbreitet, so mufs auch
die seinen Horizont begrenzende Fläche der äufsersten sichtbaren
Gegenstände immer weiter hinausrücken, wie es sich ja nach
den vorliegenden Angaben auch tatsächlich zu verhalten scheint.
Wird die Tiefenlokalisation bei operierten Blindgeborenen durch das -
Prinzip der Aufmerksamkeitslokalisation beherrscht, so dürfen wir jetzt
auch mit der Möglichkeit rechnen, dafs die bei derartigen Patienten so oft
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wiederkehrende Aufserung, die Gesichtseindrücke schienen in der ersten
Zeit nach der Operation das Auge zu „berühren“ in ganz wörtlichem Sinne
aufzufassen sind und nicht blofs eine Umschreibung für die Angabe dar¬
stellen, dafs die Gesichtseindrücke in die unmittelbare Nähe des Auges
lokalisiert wurden. Es ist wohl kaum daran zu zweifeln, dafs der Sehakt
bei den in Bede stehenden Patienten in der ersten Zeit nach der Operation
mit mannigfachen Organempfindungen verbunden sein wird. Fechner weist
mit Becht darauf hin, dafs bei aufmerksamer Betrachtung eines Objektes
Spannungsempfindungen am Auge auftreten ; auch stärkere Akkommodation
oder Konvergenz verrät sich in Organempfindungen. Nun ist aber bekannt,
dafs Eindrücke, denen wir fortwährend ausgesetzt sind, allmählich der
Nichtbeachtung unterliegen; von Helmholtz wurde der Umstand, dafs wir
von den Schatten der Netzhautgefäfse zu abstrahieren gelernt haben, als
Beispiel hierfür angeführt. Wir werden kaum fehlgehen, wenn wir an-
nèhmen, dafs ein Patient, der das Augenlicht erst nach bereits erfolgter
Ausbildung des Nervensystems erlangt, in der ersten Zeit nach der Opera¬
tion beim Sehen ausgeprägtere Organempfindungen haben wird als der
Normale, der an die Organempfindungen gewöhnt ist und von ihnen zu
abstrahieren gelernt hat. Treten doch die Organempfindungen wieder mit
grofser und lästiger Deutlichkeit in Erscheinung, wenn die Innervation der
Augenbewegungen infolge einer relativ leichten funktionellen Neurose ein