154 Erster Abschnitt. Über das Wesen der Tiefenwahrnehmung.
Einen wichtigen Fingerzeig für die Erklärung des Phänomens
erblicke ich in der von den Vpn. des öfteren zu Protokoll ge¬
gebenen und von mir selbst bestätigt gefundenen Beobachtung,
dafs der fallende Seitenstab weniger weit zurückzutreten scheint,
sowie man der Tendenz, nach der betreffenden Richtung hinzu¬
blicken, nachgibt. In der Tat werden wir bei der Erörterung
der „orthogonen Lokalisationstendenz“ (4. Kap.) sehen, dais bei
wanderndem Blick eine Tendenz besteht, Objekte, die bei
ruhendem Blick in einer Ebene erscheinen, in eine gegen den
Beobachter konkave Fläche zu lokalisieren; die Wanderung des
Blickes führt also eine Tendenz herbei, die seitlichen Objekte
mehr nach vorn zu lokalisieren.- Hiermit stehen auch die Be¬
funde, welche Tscheemak und Kiribuchi erhielten, als sie den
Lothoropter das eine Mal bei Fixation des Mittellotes, das andere
Mal bei seitlich wanderndem Blick bestimmten, in Einklang. Im
letzteren Falle mufsten die Seitenlote, wenn der Kernflächen¬
eindruck erzeugt werden sollte, weniger weit vor dem Mittellot
stehen als im ersteren Falle. Hiernach ist es nicht unmöglich,
ja wahrscheinlich, dafs der sog. Lothoropter, den Tscheemak für
den „wirklichen“, d. h. den allein durch die Raumwerte der Netz¬
haut bedingten, ansieht, in Wirklichkeit schon ein kompliziertes
Produkt darstellt, nämlich eine Resultanten Wirkung, deren eine
Komponente der Blickbewegungsimpuls nach der Seite, bzw. der
mit dieser seitlichen Blickbewegung verknüpfte Tiefeneffekt ist.
Der sog. Fallhoropter würde uns denjenigen Tiefeneindruck zeigen,
der nach Wegfall jener einen Komponente übrig bleibt.
Ich gehe auf die Nachprüfung dieser Hypothese hier nicht näher ein,
weil ich beabsichtige, die Frage im Zusammenhang mit dem Problem der
sog. „ Hering-Hillebrands chen Horopterabweichung“ zu untersuchen. Zur
Inangriffnahme dieses Problèmes nötigt folgender Umstand. Die Hering-
HiLLEBRANDsehe Horopterabweichung“ besteht darin, dafs ein Fadentripel,
welches aus gewisser Entfernung in der Kernfläche erscheint, aus kleinerem
Abstand einen gegen den Beobachter konvexen, aus gröfserem Abstand
einen gegen den Beobachter konkaven Eindruck erzeugt.
Eine ähnliche Tendenz besteht nun aber, wie aus der Untersuchung
über die „orthogone Lokalisationstendenz“ (4. Kap.) hervorgeht, auch im
einäugigen Sehen. Bei diesen einäugigen Versuchen wird aber, um den
Ausdruck einer Vp. zu gebrauchen, die Konkavität durch die Blick¬
bewegung „aufgebaut“. Falls nun, wie ich auf Grund mannigfacher, zum
Teil schon in dieser Untersuchung niedergelegter Tatsachen vermute, die
Aufmerksamkeit sich beim Blick in die Ferne mehr wandernd, beim Blick
in die Nähe mehr ruhend verhält, böte sich eine Möglichkeit dar, die Er-