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der Reizwelle (negative Schwankung, Phase) in jedem
einzelnen Muskelelement vollzieht sich daher im
Stadium der latenten Reizung.
Man wird aus dieser Tatsache schließen dürfen, daß der ge¬
samte Erregungsprozeß in dem Muskel, welcher die Kontraktion
bedingt, kein einheitlicher ist, da die elektrischen und mecha¬
nischen Veränderungen desselben zeitlich nicht zusammenfallen.
Beiden Vorgängen, den elektrischen wie mechanischen, liegen un¬
bedingt chemische Prozesse zugrunde, die in der Muskelsubstanz
ablaufen. Wir wissen mit Bestimmtheit, daß bei der Muskel¬
tätigkeit eine stärkere Spaltung und Oxydation von organischen
Verbindungen in dem Muskel eintritt, als dies in der Ruhe ge¬
schieht, und daß der Muskel bei der Tätigkeit mehr Sauei’stoff
verbraucht und unter den Verbrennungsprodukten hauptsächlich
mehr Kohlensäure liefert als in der Ruhe. Auch die Wärme¬
erzeugung im Muskel, die bei der Arbeitsleistung eintritt, ist ein
Beweis dafür, daß bei der Reizung chemische Energie umgesetzt
wird. Wir werden daher sagen dürfen, daß der gesamte chemische
Prozeß bei der Kontraktion in zwei Teilprozesse zerfällt. Der
erste fällt mit der elektrischen Veränderung, der zweite mit der
mechanischen Veränderung der Muskelfaser zeitlich zusammen.
Der erste fällt zum großen Teil in das Stadium der Latenz und
muß bis zu einem gewissen Grade vorgeschritten sein, damit der
zweite zugleich mit der Kontraktion erfolgen kann. Welcher Art
der erste Teilprozeß ist, möge zunächst unbestimmt bleiben; daß
der zweite im wesentlichen in einer oxydativen Spaltung organischer
Verbindungen besteht, kann wohl als sicher angesehen werden.
Weiteres hierüber wollen wir später behandeln.
Diese elektrischen Veränderungen der Muskeln und Nerven
in ihrer Beziehung zum Ablauf der Erregung und Tätigkeit sind
nun in den letzten Jahrzehnten auch mit Hilfe von elektrischen
Instrumenten beobachtet worden, welche schnellen Stromes¬
schwankungen mit großer Schnelligkeit folgen und daher die
Anwendung des Rheotoms zum Teil ersetzen können. Zu diesen
gehört erstens das von dem Physiker Lippmann erfundene
Kapillarelektrometer und zweitens das von dem Physiologen
Einthoven konstruierte Saitengalvanometer1). Beide Instru-
*) Beschreibung dieser Instrumente siehe im Anhang.
Bernstein, Elektrobiologie.
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