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G-. Störring
auftreten. Die zweite und dritte Möglichkeit habe ich früher zu
widerlegen gesucht1). Die dritte Möglichkeit war damals von
Alfred Lehmann in der ersten Auflage seiner Psychologie des;
menschlichen Gefühlslebens vertreten. Ich bin für die erste Möglich¬
keit eingetreten, habe diese Hypothese näher ausgestaltet. Später
hat A. Lehmann2) auch die Auffassung entwickelt, daß Lust an
den Umsatz von potenzieller in aktuelle Energie gebunden ist.
Man muß hier natürlich eine gewisse Beschränkung machen
und etwa sagen, Lust sei gebunden an den Umsatz von potenzieller
in aktuelle Energie in den zentralen Nervenzellen innerhalb
einer bestimmten Grenze. Was läßt sich nun über diese
Grenze sagen? Wenn man in der Skala der Beize, welche die
zentralen Nervenzellen treffen, nach oben steigt, so kommt man
natürlich an eine Grenze derart, daß bei noch weiterer Steigerung
der Intensität Unlust entsteht. Es ist offenbar für den Organismus
zweckmäßig, daß Beize so großer Intensität, daß die durch sie
ausgelösten Dissimilationsprozesse nicht mehr durch Assimilations¬
prozesse ausgeglichen werden können, sich mit Unlust verbinden.
Ich habe sodann Muskelkurven verwertet, die ich selbst am
kurarisierten Eroschmuskel bei steigender Beizintensität bis zu
übermaximaler Beizung unter isometrischem Beizungsregime an¬
gestellt habe. Bei übermaximalen Beizen weisen diese Kurven gegen
die anderen eine deutliche Modifikation auf. Die Kurve bei über¬
maximaler Beizung zeigt sehr deutlich früheren und jäheren
Abfall, sowie kürzere Dauer der Spannungsentwicklung.
Es ist also bei übermaximaler Beizung
eine eigentümliche Modifikation der Zer¬
setzungsprozessein der lebendigen Substanz
zu konstatieren. Dieser eigentümlichen Modifikation der
Zersetzungsprozesse in der lebenden Substanz entsprechen bei
übermaximaler Beizung von zentralen Nervenzellen des Gehirns
Unlustgefühle.
Deshalb nehme ich an, daß wir die in Bede
s t e h e n d e G r e n z e in derWeise n ä h e r best immen
können, daß eine Beizung der zentralen sen¬
sorischen Nervenzellen sich mit Lust ver¬
bindet, solange ihre Intensität sich unter
der Größe hält, wo die in derselben ausgelösten
Dissimilations- und Assimilationsprozesse
eine wesentliche Modifikation, eine Störung
erfahren. Diese Modifikation betrachte ich als einen Ausdruck
x) Störring: Vorlesungen über Psychopathologie. 1900.
2) A. Lehmann: Die körperlichen Begleiterscheinungen der psychischen
Zustände. II. Teil. 1901.