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Fritz Giese
Wir wollen diese wenigen methodischen Grundgedanken auch
noch in kritischer Form zur Erweiterung führen.
Methodologisch ist zu sagen, daß die Jöu^cssche Hypothese
von der Ausdeutung der Handschrift als Gebärdenwirkung die
Frage noch nicht gelöst hat, ob tatsächlich eine Homogenität
zwischen Mikro- und Makrogebärde existiert. Das was wir im
Sprechen, beim Handeln mit der Hand ausdrückend „tun”, wird
im Schreiben abgebremst auf Ausschläge in Millimetern u n d in
zweidimensionalem Ductus ! Dürfen wir die dreidimensionale
Lebensgebärde unmittelbar mit der zweidimensionalen Mikro -
gebärde vergleichend parallelisieren ? Diese Frage harrt ihrer
Untersuchung! Sie kann die Methode der Graphologie noch grund¬
legend ändern, je nach dem sie Ergebnisse hat.
Ganz unklar ist auch noch der Einfluß des Materials auf den
Schriftcharakter. Hier könnte seitens der kriminalistischen
Forschung in mannigfacher Form Wertvolles erbracht werden.
Vorerst haben wir noch keine unbedingten Fehlerquoten für die
graphologischen Analysen, denn sie gehen fast restlos in der Praxis
ohne Ansehung des Materialeinflusses vor sich. Oben erwähntes
Muster von der Wirkung des Füllfederhalters auf die Schriftgebärde
ist nur einer von vielen anderen Fällen, die der methodologischen
Untersuchung harren. Man möchte hinzufügen, daß die Grapho¬
logie in diesem Sinne noch niemals eine Bewährungskontrolle
erbracht hat.
Damit kommt man auf einen weiteren Punkt: nämlich die
Notwendigkeit, die Methode der Graphologie zu verbinden mit
einer Methode der Massenstatistik. Das bedeutet ideell etwas
Ähnliches, wie die Erschließung der Vorkommensgesetze mensch¬
licher Charaktere, der Streuung von Spielarten der Schriftführungen.
Die Graphologie hat außerdem praktisch noch die methodische
Aufgabe, schnell und auch im Massenversuch anwendbar zu
arbeiten, um hunderte von Menschen in geraffter Systematik
gleichzeitig zu differenzieren, zu teilen nach einigen wenigen
Blöcken von qualitativer Differenziertheit, wie es die psycho-
technische Eignungsprüfung bereits auf ihrem Gebiete erfolgreich
getan hat. Beides, die Forderung einer praktischen Massenanwen¬
dung und eine Gewinnung kollektiver Geltungsregeln, gemahnt
noch an einen dritten Punkt, den die Graphologie heute wohl noch
nicht immer erkannt hat. Marbes Pegel von der Gleichförmigkeit
in der Welt1) beherrscht auch dieses Feld. Es ist möglich, daß der
Graphologe, selbst dem Gesetz der Gleichförmigkeit unterliegend,
zu einer Uniformität der Deutungen gerät, die keine Bewährungs-
kontrolle mehr aushält, da er dauernd seine Urteile unterbewußt
1) Marie: Die Gleichförmigkeit in der Welt. Leipzig 1916.