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Die Besonderung des verzierenden Schönen.
den Griechen trennten sich die Gebiete beider ; der religiöse Inha t
wurde hier zu dem blossen Stoff der Dichtung herabgesetzt. Dieses
Verhältnis besteht in der Théogonie des Hesiod, in der Komodie des
Dante und in den modernen religiös - epischen Dichtungen von Milton
und Klopstock. Indess hat die reale Macht der Religion selbst m
diese reinen Dichtungen sich eingedrängt und ihre freie, nur dem
Schönen folgende Entwicklung beengt. #
28. Bei der Verbindung, in der in den frühsten Zeiten Religion
und Wissenschaft standen, dehnte sich die dichterische Form auch
auf die letztere aus. Dies gilt von den Veden der Inder wie von
dem alten Testament und von den frühsten philosophischen Schritten
der Griechen. Noch Parmenides schrieb seine eleatische Philosophie
in Versen. Die Vorliebe für das Form-Schöne liess an der dichteri¬
schen Darstellung des wissenschaftlichen Inhaltes auch dann noch mit
Absichtlichkeit festhalten, als die Sprache für die prosaische und streng
wissenschaftliche Darstellung bereits vollkommen entwickelt war. Virgil
behandelte in dieser Weise die Lehre vom Landbau; Horaz die Lehre
von der Dichtkunst ; Lucrez die Philosophie des Epikur. Je nach der
Beschaffenheit des Stoffes konnte das Schöne sich hierbei mehr oder
weniger auch auf den Inhalt ausdehnen; die »Georgica« des Virgil, die
»Werke und Tage« des Hesiod, die »Kunst zu lieben« von Ovid stehen dem
freien Schönen daher näher, als die Epistel des Horaz an die Pisonen.
29. Ausser in der umfassenden Darstellung wissenschaftlicher Ge¬
biete zeigt sich das verzierende Schöne auch in der Behandlung ein¬
zelner Gedanken und Regeln aus dem religiösen, sittlichen und dem
Gebiete der Lebensklugheit. Hierher gehören die gnomische Poesie der
Alten, die Epigramme; die Episteln des Horaz, des Ovid; die Para¬
beln, die Räthsel, die Sprichwörter, die Xenien u. s. w. Alle diese
Erzeugnisse gehören nicht zu dem freien Schönen, weil sie entweder
nur einen allgemeinen Gedanken in dichterische Form kleiden, mithin
der dem Schönen unentbehrliche Gefühlsinhalt fehlt; oder weil sie auf
die realen Ziele der Belehrung und der Moralität ausgehen und die
Mittel der Dichtkunst nur zu diesem Zwecke benutzen.
30. Der überwiegende Sinn der Alten für das Formschöne liess
sie auch die Beredtsamkeit in die freien Künste aufnehmen, ob¬
gleich deren Werke offenbar nur zu dem verzierenden Schönen ge¬
hören; denn die Zwecke der Beredtsamkeit sind nur reale, innerhalb
der Gebiete der Politik, des Rechts, der Religion und der sozialen
Fragen. Der Redner will die Zuhörer von der Wahrheit seiner
Ansichten überzeugen und ihre realen Gefühle und Leidenschaften
zur Verfolgung seiner Ziele erwecken oder verstärken; dieses ist sein