Die Vorbedingungen der Erzeugung des Schönen.
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dingung für den grossen Künstler gewesen, und selbst die Armuth
hat das Genie zu überwinden vermocht; nur die kleinern Talente
gehen darüber zu Grunde. Akademien und Konservatorien sind be¬
reits oben gewürdigt; wichtiger sind die Museen, in denen die Werke
der bildenden Kunst leicht zugänglich gemacht sind. Auch der Ver- j
kehr mit andern Künstlern und mit der Welt und deren hervor- j
ragenden Männern und Frauen ist für den Künstler von grosser Be- j
deutung in Bezug auf seine Auffassung des Realen und die Wahl |
seiner Motive. Deshalb sind die grossen Städte der beste Ort für /
Dichter und Künstler. Göthe hat unzweifelhaft durch Weimar gelitten. )
23. Eine sehr verbreitete und von den Systemen viel verfochtene
Ansicht verlangt als Bedingung für die Entfaltung der Kunst vor
Allem die politische Freiheit der Nation. Die Geschichte be¬
stätigt indess, obgleich man sich auf sie beruft, diese Ansicht nicht.
Die Gedichte Homer’s sind an den Küsten Kleinasiens zu einer Zeit
entstanden, wo das patriarchalische Königthum gebrochen war und die
Tyrannei Einzelner oder die despotische Herrschaft des Adels die
Freiheit niederdrückte. Die besten antiken Werke der Plastik, die
sich nächst den Skulpturen am Parthenon und einigen andern erhalten
haben, stammen aus der Zeit der römischen Kaiser von August bis
Hadrian. Die grossen Bauwerke der Römer, welche einen bedeutenden
Fortschritt in dieser Kunst darstellen, sind zu derselben Zeit ent¬
standen.
24. Die grossen Dichtungen und Bauwerke des Mittelalters
stammen aus der Zeit, wo ein wilder Kampf zwischen den geistlichen
und weltlichen Fürsten, zwischen Lehnsherren und Vasallen, zwischen
Adel und Städten den regelmässigen Zustand der Gesellschaft bildete
und die ärmeren Klassen unter hartem Druck zu leiden hatten. Das¬
selbe gilt für die Blüthezeit der Malerei in Italien. Die grossen Dra-
men der Spanier und Shakespeare’s sind zur Zeit der despotischen
Herrschaft Philipp’s II. entstanden, wo die Freiheiten der Nation, die
Rechte der Cortez gebrochen wurden, und zurZeit der Elisabeth, wo
das englische Parlament sich in der servilsten Weise zum Werkzeug
der Krone hergab. Lessing, Göthe, Schiller, Sebastian Bach, Händel,
Haydn, Mozart haben ihre Werke zu einer Zeit geschaffen, wo zwar
das Verlangen nach Freiheit erwacht war, aber in der Wirklichkeit
die absolute Fürstengewalt die drückendste und widrigste Gestalt ange¬
nommen hatte. Umgekehrt hat die Freiheit der Schweiz, Hollands,
Englands und Nordamerika^ die Kunst nicht gefördert; kein Land
ist ärmer an Künstlern geblieben, als diese Länder, nachdem sie ihre
Freiheit errungen hatten.