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Der Styl in der Kunst.
13. Diese Stylarten können noch nicht als ein Mangel der Kunst¬
werke behandelt werden, weil auch in der realen Welt die Gefühle
eine gewisse Biegsamkeit besitzen und somit der Inhalt selbst sich
der ihm gegebenen Form in gewissem Maasse fügen kann. Dadurch
bleibt auch bei diesen Stylarten das Grundgesetz noch unverletzt,
wonach die Form nur der Ausdruck des Inhaltes sein darf; es ist
auch in diesen Stylarten noch kein Zwiespalt zwischen beiden ein¬
getreten.
14. So giebt es eine erhabene und feierliche Stimmung, die sich
zur Freude neigt und es giebt eine Freude, die dem Feierlichen sich
nähert. Deshalb sind die erhabenen Madonnen Raphael’s trotz ihrer
einfach schönen Elemente und die heitern Lünetten-Figuren Michel
Angelo’s in der Sixtinischen Kapelle trotz ihrer erhabenen Elemente
noch tadellose Kunstwerke. Deshalb sind die Dichtungen Schiller’s
eben so schön wie die Göthe’s, obgleich der Styl jenes sich zu dem
Musikalischen neigt, während bei Göthe das Plastische vorherrscht.
Indem das Seelische selbst sich nach diesen verschiedenen Formen
fügt und biegt, bleibt die Harmonie zwischen Form und Inhalt im
Kunstwerk unverletzt. So bleiben der Inhalt und die Charaktere bei
Aeschylos in Folge seines Styles streng erhaben, während bei Euri¬
pides in Folge seines dem Schönen und Sentimentalen zugewendeten
Styles, derselbe Stoff, dieselbe Mythe die Erhabenheit ablegt und ihren
einfach schönen Inhalt dafür hervorkehrt. Durch diesen veränderten
Styl des Euripides haben auch die Charaktere oder der Inhalt nach¬
gegeben und sich dem Sentimentalen genähert. Damit ist die Ueber-
einstimmung zwischen Inhalt und Form erhalten, und die Schönheit
der Dichtung ungemindert geblieben.
15. Diese Biegsamkeit des Inhaltes hat jedoch ihre Gränze.
Wenn diese überschritten wird und der Inhalt der Form nicht mehr
folgen kann, so geht der Styl in die Manier über. Diese Gränze
ist keine scharfe und deshalb ist auch der Styl grosser Künstler nicht
immer frei von Manier. Eine andere Art der Manier entsteht, wenn
die Schüler und Nachfolger grosser Meister an deren Styl starr fest-
halten, während die Grösse des Inhaltes und der Komposition ihres
Meisters ihnen verloren geht. Deshalb entwickelt sich in jeder Kunst
nach klassischen Perioden eine Herrschaft des Formschönen bis zum
Gezierten und Affektirten hinab, sofern nicht von Zeit zu Zeit wieder
grosse Meister auftreten und an Stelle des veralteten Styles und der
ausgeleerten Form neue, inhaltsvolle Ausdrucksweisen in die Kunst
einführen. Nicht jedes Missverhältniss zwischen Form und Inhalt ist
schon Manier; sondern zur Manier gehört, dass der Fehler auf der